Unruhe.
Zum gefühlt
13.756. mal habe ich grade eben mein Hamburg-Ritual absolviert. Bei Gosh. Dort kennen sie mich schon. Großes Bier wird automatisch gezapft, wenn ich mit der Rolltreppe in den Kulinarik-Bereich im
ersten Stock vordringe. Dann ist nur noch die Frage: Thai-Nudeln oder Fischteller.
Heute: Thai-Nudeln.
Das Ritual ist mir so
wichtig, weil es mir die Chance gibt, nach meist intensiven Arbeitstagen in meiner Lieblings-Stadt wieder runterzukommen.
Gelingt so gut wie immer. Plus: Die Chance, über alles Mögliche
nachzudenken. Vielleicht eine Lösung für was "Verzwicktes" zu finden oder - genauso angenehm - eben gar nix zu denken.
Heute: Irgendwie mittendrin.
Auf Facebook kursiert
grade ein Profilfoto-Design mit Europa-Sternen. Wo doch jetzt grade Österreich den EU-Vorsitz übernommen hat. Hab ich natürlich sofort (für 1 Woche) übernommen. Nicht, weil ich so stolz auf meine
Regierung bin, sondern weil ich meiner un-europäischen Regierung ein Gegengewicht bieten will.
Nicht ich allein, sondern im Schulterschluss mit vielen
anderen.
Zum ersten Mal in meinen bisher 60 Lebensjahren plagt mich nämlich
ein bis dato unbekanntes Gefühl. Zum ersten Mal habe ich Angst um unsere Demokratie.
In meiner Jugend habe ich erlebt, wie zwei Alleinregierungen
einander abgelöst haben.
Zuerst war von 1966 bis 1970 die ÖVP allein am Zug, ab 1970 die SPÖ.
(Zuerst 1 Jahr als Minderheitsregierung, dann mit absoluter Mehrheit.)
In meinem brav nach ÖVP ausgerichteten Elternhaus ging 1970 die
Angst um.
Dass die Kommunisten nun heimlich die Macht übernehmen. Dass man uns
alles Wertvolle wegnehmen würde. (Meine Mutter: "Pass auf, das ist der Neid der Besitzlosen!")
Nachdem all das nicht passierte, wurde Platz für devote Bücklinge
gegenüber unserem Nachbarn, einem SPÖ-Abgeordneten zum Nationalrat, der sich aus bescheidensten Verhältnissen nach oben gearbeitet hatte.
Der "Herr Nationalrat" war
zwar ein Sozi, aber er lebte nur ein Stockwerk über uns im gleichen Haus. Großes Renommee.
Noch als Schulsprecher war ich Mitglied in einer
Vorfeld-Organisation der ÖVP.
Erst mit dem Studium in Wien drehte sich das Blatt und ich würde zu
einem begeisterten Fan Bruno Kreiskys.
Gegen Ende der Amtszeit des Sonnenkönigs störte mich dessen
Cäsarenwahn allerdings sehr.
Dann kam Fred Sinowatz, den ich später als Freimaurer-Bruder
kennenlernen durfte und der mich mit seiner hohen Gelehrsamkeit sehr beeindruckte.
Und so weiter - durch all die Jahre:
Nie - niemals! - hatte ich
den Eindruck, dass bei allem Wandel die Essenz der Demokratie gefährdet wäre.
Obwohl mir speziell bei meiner Arbeit an meiner Dissertation die
Doppelbödigkeit des österreichischen politischen Systems bewusst geworden war: Regierung hin oder her, die Sozialpartner hatten das letzte Wort.
Zugleich die Angst der
Regierungen vor der "Macht der Straße" und die Bemühungen, den "Klassenkampf am grünen Tisch" auszutragen. Man hatte heftige Unterschiede, aber man konnte miteinander auskommen und - heute immer
weniger vorstellbar - sogar großkoalitionäre private Verbindungen eingehen.
Das System ermüdete. Letztes dramatisch positives Vitalzeichen: Der
Beitritt zur EU.
Zugleich: Das erste deutliche Gewitterblitzen am populistischen
Horizont durch Jörg Haider mit all seiner demagogischen Polemik. Viele Blitze aus seiner bösartigen Wolke sollten noch einschlagen und tun es durch seine politischen Nachkommen mit besonderer
Gefährlichkeit heute mehr denn je.
Und das System wurde träge. Nach dem letzten Kanzler mit
internationalem Format - Franz Vranitzky - kamen visions- und oder rückgratlose Administratoren ins Amt. (Der durchaus charismatische Kürzest-Kanzler Kern scheiterte an der Auswahl seiner elenden
Berater und am erbärmlichen Erbe des politischen Flachwurzlers Fayman).
Ausnahme: Schüssel. Er war angetreten, um das
sozialpartnerschaftliche System, dessen ebenfalls sozialpartnerschaftliche Ausgeburt er war, zu zerstören.
Zwischen 2000 und 2006 lösten die Tabubrüche und Peinlichkeiten
einander in kurzer Folge ab:
Die Koalition mit der Haider-FPÖ, die aus ihren Nazi-Wurzeln
unverschämteste Kraftakte des Rassismus und der Xenophobie gebar.
Dann die ständigen Provokationen auf EU-Ebene. Die Installation
unerträglich inkompetenter MinisterInnen - hauptsächlich auf FPÖ/BZÖ-Ebene, aber auch aus ÖVP-eigener Aufzucht.
Ein politischer Wendehals als Finanzminister, den die Österreicher
in gewohntem Masochismus verehrten. Bildung als Dauerkatastrophengebiet - direkt gespeist aus einem Weltbild des 19. Jahrhunderts. Immerhin: Endlich Restitution an die von den Nazis enteigneten
jüdischen ÖsterreicherInnen.
Wer sich bei all dem an die heutige Regierung erinnert fühlt, der
täuscht sich nicht. Wieder die faschistische FPÖ als Koalitionspartner. Wieder die himmelschreiende Inkompetenz insbesondere der FPÖ Minister. Wieder ein FPÖ-Wendehals, der über den Umweg des
Rechnungshofes plötzlich als "Unabhängiger" das Justizministerium führt.
Allerdings gibt es nun plakative Unterschiede zur
Schüssel-Zeit.
Leider alle zum Negativen hin.
Wir haben einen
Bundeskanzler, dem offensichtlich alles, was vor seiner Geburt im Jahr 1987 geschah, eine entbehrliche Anstrengung ist.
Sein Geschichtsbewusstsein oder besser: das, was es nicht ist -
führt immer wieder zu schrecklichen Wortschöpfungen, die auf das Ungenierteste an einer toxischen Vergangenheit anstreifen. Bildung, sprachliche und natürlich auch gedankliche Sensibilität:
Fehlanzeige.
Plakativster Untergriff: Der Kanzler bezeichnet beim Staatsbesuch in
Israel Österreichs vermeintliche Gegenposition zum Anti-Semitismus als Staats-Räson.
Als Staats-Räson! Quasi: Wir müssen das so machen, Hauptsache, wir
haben keinen Ärger mit Israel (wie's in uns drinnen aussieht, geht eh keinen was an).
Das ist die perfekte Nachfolge des "... tu felix Austria, nube!",
mit dem die Söhne und Töchter Habsburgs in liebes-befreite Hochzeiten gejagt wurden.
Hauptsach, a Ruh is!
Und während all dieser
Staats-Räson singen die FPÖ-Burschenschafter in der Regierung auf ihren Buden antisemitische Schandlieder.
Und der Kanzler schwafelt von einer "Achse der Willigen" zwischen
Berlin und Rom.
Dass die "Achsenmächte" ein Konstrukt Hitlers und Mussolinis waren,
muss der Bildungs- oder Anstands-Lücke des Kanzlers ja keinen Abbruch tun.
Und dann ist noch Visegrad und die ekelerregende Koalition der
Verfechter der illiberalen Demokratie, mit denen sich Kurz gerne ablichten lässt.
Und die geplante und bald beschlossene Reform der Arbeitszeit, mit
der ein Diktat der Industriellenvereinigung realisiert wird. Eh klar: Ganz ohne sozialpartnerschaftliche Begutachtung und ganz ohne parlamentarische Prüfungs-Rituale.
Und die schamlosen
Angriffe der FPÖ auf Verfassungsschutz, Pressefreiheit und Kultur, deren intellektuelle Unterirdischkeit nur von der politischen Unverschämtheit ihrer Akteure übertroffen
wird.
Wiederum frei von aller Korrektur seitens einer machtgeilen und
sozialistenhasserischen ÖVP, die nach wie vor dem Messias Kurz zu Füßen liegt.
Aber nicht nur die ÖVP, auch die katholische Kirche findet erst zu
ihren Prinzipien, wenn es um eigene Klientel-Interessen geht.
Der Anschlag der Regierung auf die 40-Stunden-Woche hat so lange das
soziale Herz der Kirche kalt gelassen, bis klar würde, dass auch bis zu vier (4) Sonntage im Jahr der Gier der Industriellen geopfert werden sollen.
Solange sich die
Arbeitnehmer am Sonntag nach einer 60-Stunden-Woche sonntags in die Messe schleppen und während der Predigt einschlafen, wollen wir einmal ein klerikales Auge zudrücken.
Aber an vier Sonntagen
hackeln müssen und nix in den Klingelbeutel werfen können - das geht zu weit.
Wir haben eine machtgeile und von allem politischen Anstand
verlassene ÖVP, die einen von Bildung und Ethik freien Kanzler stellt.
Und wir haben eine FPÖ, die ihre Nazi-Genetik nicht in den Griff
kriegt und das offensichtlich auch gar nicht will, die sich widerlich an den Grundfesten der Demokratie zu schaffen macht.
All das mit einer Bevölkerung, die den schleimigen
Lieblings-Schwiegersohn weiterhin adoriert und ohnehin chronisch eine tiefe Wurschtigkeit gegen alles Kryptofaschistische kultiviert hat.
Das hatten wir in dieser
Dichte noch nie.
Es ist zum Fürchten.
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Christine Grünwald (Dienstag, 03 Juli 2018 01:47)
Lieber Hannes, Du sprichst mir so sehr aus der Seele, dass ich gar nicht weiß, was ich noch hinzufügen könnte! Auch wenn unsere Geburtsjahre doch um einiges auseinander liegen, hast Du Dich offensichtlich sehr intensiv mit der Entwicklung beschäftigt und weißt so viel mehr als die meisten! Ich danke Dir für Deinen Blog, Deine Beiträge und all Deine Kommentare! Bitte bleib dabei - Du bist für mich und hoffentlich auch für viele andare eine wahre Bereicherung!
PS.: Mein modenes Märchen hat übrigens eine wunderschöne Fortsetzung - nach einem wahnsinnig tollen Wiedersehen gibt es einen sehr langen gemeinsamen Urlaub in Wien! Nicht alles ist traurig ...
Alexandra Sterrer (Dienstag, 03 Juli 2018 09:58)
Alles auf den Punkt gebracht. Genialer Text. Wie immer.
Maria Scholz-Fischhuber (Dienstag, 03 Juli 2018 10:15)
Lieber Hannes, es gibt ganz wenige MUSTs im Leben eines Erwachsenen: Deinen BLOG musst Du unbedingt fortsetzen. Und, sollten Dich eines Tages alle Deine Freunde verlassen, was eh nie passieren wird, bleib ich Dir eine treue Leserin! Forever!
Brigitte Ellmer (Donnerstag, 05 Juli 2018 01:58)
Eine allgemeine Rückmeldung.
Ein schöner, typisch Hannes Sonnberger Blog.
Mit allem, was Dich ausmacht, und warum Dich so viele schätzen und lieben.
Ich freue mich auf Deine Geschichten und Kommentare.
Renate Skoff (Freitag, 06 Juli 2018 18:49)
Nicht nur dieser Beitrag - den ich vollinhaltlich unterstreiche - sondern die meisten deiner Beiträge sind ein Erkenntniszuwachs für mich. Danke dafür! Deshalb: Go on, Hannes, go on!
Erika Maria Pröll (Samstag, 21 Juli 2018 15:48)
Danke Hannes!
Das ist eine hervorragende Zusammenfassung!
Grundsätzlich bin ich ein positiver Mensch, aber aktuell ist es zum Fürchten!