Denkmäler. Mutti.

Aufmerksamen Beobachtern meiner Miniaturen wird aufgefallen sein, dass ich schon über ziemlich viele meiner Familienmitglieder ausführlich  geschrieben habe. Aber nur ganz wenig oder beinahe nichts über meine Mutter.

Dafür gibt es einige Gründe. Meine Mutter war eine sehr prägende Persönlichkeit, deren Einfluss auf mein Leben so intensiv gewesen ist, dass ein relevanter Teil meiner viereinhalb Jahre auf der Analytikercouch ihr gewidmet war bzw. werden musste. Nun würden sogar mit der Psychoanalyse kaum vertraute Menschen reflexartig antworten: So what! Und ich repliziere: Ja. Eh.

Natürlich war meine Mutter so wie Mütter halt für jeden anderen Menschen auch von weichenstellender Bedeutung. Vielleicht macht ihre Lebensgeschichte den Unterschied.

1933 nach fünf Ehejahren meiner Großeltern in Steyr als einziges Kind geboren und 1938 als Scheidungskind in ein ab dann schwieriges Leben gekippt. Die Mutter eine sehr attraktive, tüchtige Geschäftsfrau. Mutig, aufbrausend bis zur Cholerik, elegant, im sozialen Verhalten unkontrolliert. Der Vater ein Gemütsmensch, melancholisch, intensiver Arbeit wenig zugetan, dafür charmant, gebildet, musikalisch. Konfliktscheu bis zur Feigheit.

Unerträgliche Unvereinbarkeiten, die ab 1938 – als Ehescheidungen in der „Ostmark“ zulässig geworden waren – sofort zur Scheidung führten. Ab dann war meine Mutter für den Rest ihres Lebens auf der Suche nach väterlicher Sicherheit. Für mich immer noch vorbildhaft prägend: Der Mut meiner Mutter, mit dem sie sich in einer Nazi-verseuchten Familie erfolgreich gegen ihren Beitritt zum BdM geweigert hat. Eine entscheidende Rolle dabei dürfte ihre über alles geliebte Großmutter gespielt haben. Mit ihr stand sie 1942 am Küchenfenster in Steyr und beobachtete, wie die halbverhungerten Opfer des Konzentrationslagers Mauthausen durch Steyr getrieben wurden. Sie sah, wie diese geschundenen Menschen versuchten, aus den Mülleimern im Vorüberwanken Essensreste zu ergattern. Und wie sie von den Mülleimern weggeprügelt wurden. Das hat in ihr eine lebenslange Impfung gegen den Nationalsozialismus bewirkt. Eine Impfung, deren Wirkstoffe sie an meinen Bruder und mich weitergegeben hat.

Nach Kriegsende – von Mutti den damals unreflektierten Sprachgebrauch übernehmend „Umbruch" genannt – wurde sie gegen ihren Willen nach Bad Ischl in eine Hauswirtschafts-Schule geschickt und dort – wie man heute sagen würde – von ihren Mitschülerinnen gemobbt. Nach einem Jahr des Leidens dürfte sie dann doch zurück nach Steyr und besuchte die dortige Handelsschule. Die von ihrer Mutter verordnete Arbeit im Familienbetrieb verlief so zermürbend, dass Mutti nach Linz exiliert wurde und dort eine sehr glückliche Zeit in Jobs, die ihr Freude machten, verbrachte. In Linz – abseits der mütterlichen Knute – entwickelte sie auch einen für die damalige Zeit beinahe liderlichen Lebenswandel mit einem hohen Verschleiß an Liebespartnern.

Dieser „Modus Vivendi" blieb nicht lange geheim und so hielt die in Steyr residierende Mutter Ausschau nach geeigneten Schwiegersöhnen. Ein Handelsvertreter machte sich erbötig, seinen besten Freund zu verkuppeln. Der hatte schnell Karriere gemacht, war mit 30 Jahren schon Prokurist in einer Baumaschinenfirma und eine „gute Partie" im Sinne von Seriosität und gesellschaftlichem Status. Bei einem Ballbesuch wurden die beiden einander vorgestellt. Und es funkte. Nach einer Verlobungszeit von einem Jahr heirateten meine Eltern 1957. In Steyr. Wo sonst. Noch immer hatte meine Großmutter die Hände bei allen wichtigen Themen im Spiel. Noch immer war meine Mutter auf der Suche nach einem Vater-Ersatz. Und noch immer war diese Suche auch durch die Heirat nicht zu Ende. Mein Vater war alles, nur kein resoluter Ehemann. Wahrscheinlich konnte er mit Frauen grundsätzlich nur wenig anfangen. So waren die Schienen in ein beidseitig unglückliches Leben gelegt. Und diese Schienen wurden mit selbstmörderischer Konsequenz auch befahren. Als Scheidungskind konnte Mutti eine eigene Scheidung nicht einmal andenken. Als mittlerweile Direktor und Geschäftsführer war eine Trennung auch für meinen Vater aus seiner Perspektive gesellschaftlich nicht opportun.

So lebten dann vier Menschen in einem sehr unglücklich konfigurierten System. Meine Eltern, mein jüngerer Bruder und ich. Mutti hatte etwa ab Mitte der 60er-Jahre aufgehört, sich für die Entwicklungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zu interessieren. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt ihren Söhnen und dem fallweisen Ersatz jener ehelichen Zuwendungen, die sie entbehren musste. Sie war eine blendende Gastgeberin und durchaus eine humorvolle Adresse für jene Schulfreunde von meinem Bruder und mir, die ein paar gepflegte Blödeleien und gnadenlos gute Mehlspeisen zu schätzen wussten.

Meine Eltern hatten leider beide eine ruinöse Strategie entwickelt, sich über die jeweiligen Enttäuschungen hinwegzutrösten: Beide entdeckten ihre Liebe zum Alkohol. Zuerst beinahe abwechselnd, später und bis zum Schluss zeitgleich. Vati erlitt 1981 drei Schlaganfälle, die seine Frühpensionierung zur Folge hatten sowie eine wirtschaftliche Engstelle, die sich nie wieder weiten sollte. 1998 starb er – völlig devastiert und seiner Persönlichkeit beraubt. Bis dahin war auch Mutti schon in eine unlösbare Abhängigkeit von Promille und Pillen geraten. Einmal noch schien Licht durch einen Spalt. Sie erlaubte sich eine glückliche späte Liebesbeziehung mit einem sehr klar strukturierten Mann, der nach wenigen Jahren an Krebs starb. 

Mutti hatte nie verwunden, welche durchaus auch problematischen Gravuren sie im Leben ihrer Söhne gezogen hatte und versuchte immer wieder, dafür eine „Amnestie“ zu erhalten. Was hätte eine „Abrechnung" mit einem so nicht-satisfaktionsfähigen Menschen aber bewirken sollen? Ich hatte mich mit mir selbst schon zu ihren Lebzeiten darauf geeinigt, dass die körperliche Hülle, aus der für mich schmerzhafte Aussagen tönten, schon lange nicht mehr von der großen Seele meiner Mutter bewohnt wurde. Jener Mutter, die gar nicht wusste, wohin mit ihrer Fürsorge und Liebe und die für ihr Leben gern lachte. 

Als sie für sich wirklich gar nichts mehr zu lachen gefunden hatte, starb sie im August 2004.

Sie war der traurigste Mensch, der mir je begegnet ist. Und sie hat mir das Lachen beigebracht.


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Kommentare: 3
  • #1

    Elisabeth (Freitag, 06 Juli 2018 10:07)

    Danke für diese persönlichen Einblicke. So wunderschön, zerbrechlich und berührend dargestellt.

  • #2

    Christine (Freitag, 06 Juli 2018 20:37)

    Mit Gänsehaut, Tränen, Dankbarkeit, Stille, denkend in mich gekehrt ... so sitze ich jetzt da, nachdem ich den Beitrag gelesen habe ... einfach unglaublich berührend ... vor allem der letzte Satz!
    Der Blog ist schon jetzt ein Geschenk an alle LeserInnen!

  • #3

    Erika (Mittwoch, 11 Juli 2018 07:00)

    Als besonders klugen und liebenswerten Menschen, habe ich dich ja schon durch deine emphatischen Komentare im Facebook erlebt. Es wundert mich daher eigentlich jetzt nicht, dass du in der Lage bist, so reflektiert und gefühlvoll über deine Kindheit und Eltern zu erzählen.
    Deine Ausführungen berühren mich, wohl auch deswegen, weil in uns allen, Familiengeschichten stecken, die das eigene Erwachsenwerden geprägt haben, einem nahe gehen und jetzt durch dich in Erinnerung gerufen werden.
    Danke dafür Hannes!