2015 habe ich mein erstes Buch veröffentlicht. Es ist (m)eine "zirkuläre Biografie". Im Jahr 2041 schreibt meine dann 15-jährige Enkeltochter Laura ihre Erkenntnisse auf, die sie aus Gesprächen mit meinen wichtigsten Freunden zieht.
Aus dieser Fiktion entstand mein Buch "Hungry Heart." Der Titel ist einem Song von Bruce Springsteen entlehnt. Es ist der Lieblings-Song meines besten Freundes und mir. Hier kommt nun eine Leseprobe.
Da sitzt er nun vor mir. Im Rollstuhl, leicht nach links gelehnt. Schaut mich an.
Der linke Mundwinkel nach unten hängend, die vollen Lippen nach außen gestülpt, so als wäre er zu faul, sich um ihre korrekte Position zu kümmern.
Ich weiß nicht, ob er es könnte oder nicht. Opa spricht nicht mehr. Seit einem Schlaganfall vor einem Jahr ist sein Sprachzentrum zerstört. Nun muss er sehen, wie er mit Zuhören vorankommt.
Manche sagen nun: „Endlich kommen wir auch einmal zu Wort – der Alte
musste ja immer das letzte Wort haben.“
Ich sage das nicht. Mir fehlt seine Stimme, die immer noch ein bisschen rauchig klang,
obwohl er schon vor 25 Jahren mit dem Qualmen aufhörte. Vielleicht wäre er sonst gar nicht so alt geworden. Dreiundachtzig Jahre! Ich will mir mit meinen 15 gar nicht vorstellen, einmal so alt zu
werden.
Werden zu müssen – würde Opa sagen, der irgendwann einmal mit dem lieben Gott einen Deal gemacht hat, zweiundachtzig zu werden und kein Jahr mehr!
Von diesem Deal scheinen die Ärzte nichts gewusst zu haben, die ihn drei Wochen nach seinem 82. Geburtstag auf der Intensivstation wieder zurückgeholt hatten.
Opa hatte sich mit dem Kopf ganz tief gebeugt, um sich ein offenes Schuhband zu binden.
Erst schien es nur, als hätte er das Gleichgewicht verloren, doch dann blieb er eigenartig lange liegen, sein linkes Bein zuckte wie unter Strom und er schaute meine Oma ganz verzweifelt
an. Ich war nicht dabei. Sie hat es mir so erzählt. „Oma“ stimmt irgendwie nicht ganz.
Meine „richtige“ Oma – die Mama meiner Mama – lebt nicht mit Opa zusammen. Schon mehr als 30 Jahre lang nicht mehr. Die „andere“ Oma ist seine dritte Ehefrau. Sie war dabei.
Und seitdem ist sie ein bisschen seltsam geworden. Sie färbt sich die Haare nicht mehr. Und geht nicht mehr in ihren heißgeliebten Tango-Kurs. Wegen ihrer Leidenschaft für den „getanzten
Geschlechtsverkehr“ (wie Opa immer grinsend sagte), war sie für mich immer die
Tango-Oma. Also, war ist jetzt natürlich ein Blödsinn – sie ist die Tango-Oma.
Jetzt sind die langen feinen rötlich gefärbten Haare ganz weiß geworden.
Das steht ihr sogar recht gut – sieht fast aus, wie eine echte Oma.
Dabei ist sie ja auch eine echte Oma – nur eben nicht meine, sondern von den Enkelkindern, die sie von ihren eigenen Kindern hat. Die sind aber nicht vom Opa.
Viele in meinem Freundeskreis beginnen bei meinen Erzählungen aus meiner komplizierten Familie die Augen zu verdrehen. Dabei ist alles nur halb so wild. Ich zum Beispiel habe gar keinen Papa, das
macht doch das Durcheinander schon einmal um einen Teilnehmer kleiner.
Meine Mama hat ihn weggeschickt, da war ich grade 1 Jahr alt. Ich sehe ihm ein bisschen ähnlich, sagt Mama und dass ihr das schon genügt. Mehr braucht sie nicht von meinem Papa.
Sie kommt schließlich ganz alleine supergut zurecht.
Und außerdem hatte ich bis vor einem Jahr immerhin noch Opa. Er wollte unbedingt OpA genannt werden, nicht OpI. Und doch: wenn ich mich an ihn kuschelte und Opili säuselte, fing er immer ganz
sanft zu singen an. Irgendein Lied aus seiner unendlichen Jazz-Sammlung.
Er hat es mir ohnehin schon so oft vorgespielt, ich glaube, es heißt „La Mer“ oder so ähnlich.
Opa sang immer mit einem wohligen Vibrieren in seinem Bauch, an dem man so schön ausruhen konnte.
Nun ist der Bauch verschwunden. Opa isst nicht mehr viel, er kann nicht gut kauen mit seiner gelähmten Backe und immer, wenn er sich bei seinen unbeholfenen Versuchen, etwas Festes zu
verarbeiten, in die linke Backe beißt, haut er mit der rechten Hand auf den Tisch und macht ganz schlimme Geräusche. Das klingt dann wie das Brummen eines Bären.
Mein großer Onkel Paul muss dann immer so lachen und sagt zu Opa: „Na, Schepsnbär, hast wieder nicht aufgepasst?“ Und das macht den Opa dann nur noch wütender und er schüttelt seine dürre Faust
in Onkel Pauls Richtung.
Jetzt sitze ich vor ihm und lese ihm aus dem aktuellen „profil“ vor. Es ist Sonntag später Vormittag und die Post hat das abonnierte Nachrichtenmagazin schon gebracht. Das Abo läuft noch immer
auf seinen Namen, obwohl die „Tango-Oma“ es längst bezahlt.
Irgendwie glaube ich, hinter seinen Augen die Aufmerksamkeit und hin und wieder auch den Ärger zu erkennen. Opa kann seine Augen nicht im Zaum halten. Meine beiden Omas haben mir erzählt, wie
sehr sie seine Augen lieben. Und wie sehr sie sich vor den Blitzen in seinen Blicken gefürchtet haben. Bis vor ungefähr 5 oder 6 Jahren. Da waren plötzlich die bösen
Blitze aus seinen Augen verschwunden und ein Hauch von kindlicher Verspieltheit war in den braunen Untiefen eingezogen.
Opa ist trotzdem ein Fanatiker geblieben. Gegen Ungerechtigkeiten und ganz besonders gegen die „Blödheit der Menschheit“ wie er es wütend zu bezeichnen pflegte, wenn wieder
einmal etwas „seinen Intellekt beleidigte“, konnte er lange Tiraden fast druckreifer Ausbrüche seines Zorns loslassen.
Nun habe ich seine Aufmerksamkeit. Ganz und gar. Ich genieße es. Dabei fällt es mir immer wieder schwer, ihn anzuschauen.
Der weiße Haarkranz ist nicht mehr so akkurat gestutzt, wie noch vor einem Jahr. Bis dahin hatte er sich den Rest seiner Haarpracht jeden Samstag
Vormittag mit einer Haarschneidemaschine auf exakt drei Millimeter gestutzt. „Rasenmähen“ nannte er das. Und wenn er gut gelaunt war, dann durfte ich auf einem Schemel stehend einen
kleinen Taschenspiegel genau so balancieren, dass er seinen Hinterkopf im Spiegel sehen konnte. Damit nur ja kein Fleckchen unbearbeitet bleiben durfte.
Vor 12 Jahren hat er sich aus seinem Beruf zurückgezogen, ist mit der „Tango-Oma“ ein
halbes Jahr durch Kanada gefahren und mit einem abenteuerlichen Backenbart
zurückgekommen. Es waren weiß schimmernde sogenannte „Koteletten“, die – exakt in der Länge seines Haupthaars – bis auf die Höhe seiner Mundwinkel reichten.
Als ich Opa zur Begrüßung auf die Wangen küssen wollte, haben die Barthaare ganz
fürchterlich gepiekst und Opa und wir mussten lachen. Dann ist er zu seiner abenteuerlichen Sammlung von CDs marschiert, hat eine herausgeholt und sie verschmitzt in den CD-Player
gesteckt. Es war „Jailhouse Rock“ von Elvis Presley. Opa zeigte mir das Cover und da war Elvis abgebildet – mit genau der Art von Koteletten, wie Opa sie nun trug.
Natürlich in brünett und natürlich hatte Elvis sein Haupthaar und zu einem Brillantine-
glänzenden Kunstwerk aufgetürmt – das wäre nun bei Opa nicht mehr möglich gewesen.
Opa stand vor mir, seine Hüften kreisten ein bisschen unbeholfen zum Rhythmus der Musik und er nahm meine Hände und drehte mich um meine eigene Achse.
Dann ließ er mich zwischen seinen gespreizten Beinen durchrutschen, was ihm einen kurzen Schmerzenslaut abpresste: Ich glaube, seine Bandscheiben – oder was von ihnen übrig war – hatten
sich
gemeldet.
„Laura“, hatte Opa gesagt, „Elvis ist schon lange tot, aber ich lebe noch und ich werde in den Jahren, die ich noch habe, ein bisschen Rock ´n´ Roll in die Welt tragen. Den passenden Bart hab ich
mir schon zugelegt!“ Und dann machte er ein paar knirschende Kniebeugen, bis mit
einem hörbaren Knacks seine Rückenwirbel wieder eingerastet waren.
Zum Samstags-Ritual gehörte auch das Trimmen der Koteletten. Sie mussten eine
messerscharfe Kante haben, kein Zehntelmillimeter eines einzelnen Barthaares durfte die
Unterkante des Backenteppichs überragen.
Das ist nun vorbei. Die Koteletten sind noch da, niemand wagt es, sie abzurasieren. Aber
natürlich sind sie meilenweit von den ästhetisch-strengen Maßstäben Opas entfernt.
Sogar ich erkenne, dass sie nicht gleich lang sind und rund herum wuchert ein weißer Stoppelfriedhof. Kein Wunder: Opa ist zu einem Konzentrat an Unduldsamkeit geworden.
Die Rasur, die die „Tango-Oma“ alle zwei Tage an ihm verübt, ist in keiner Form innerhalb der strengen Normen. Oma tut mir leid. Ich weiß genau, wie gerne sie es ihm recht machen möchte und
er ist doch nie zufrieden. Und alles dauert ihm zu lange. Manchmal, wenn sie sich
bisschen Leben in ihm steckt.
In Opa steckt viel mehr Leben, als er selbst wahrhaben möchte.
Aber irgendwie glaube ich, er will es nicht mehr er-leben. Er ist sauer auf den lieben Gott und noch mehr auf die Ärzte, die den Deal mit Gott verpatzt haben – oder „verschissen“, wie Opa sagen würde.
Meine Mama hat mir erzählt, dass er ihr vor langer Zeit – es muss so um seinen 50.
Geburtstag gewesen sein – versprochen hatte, auf jeden Fall „durchzuhalten“, bis sie 40 ist.
Das hat er dann auch großartig hingekriegt. Zu Mamas 40er war er 77, in bester Verfassung und sah ganz hervorragend aus. Ein bisschen gebräunt nach einem Sommer an der frischen Luft. Ein bisschen Übergewicht, das er einfach nicht loswerden konnte, obwohl er immer
wieder darüber lamentierte. Aber die „Tango-Oma“ mochte doch seinen Bauch so gern.
Und ein bisschen beschwipst – vom Single Malt, den er sich bei freudigen Anlässen und wenn er allein war, gerne genehmigte.
Ich sehe ihn noch vor mir, wie er – nach langem Zureden meiner Tante Lisa – doch bereit war, eine kleine Rede zu halten. Opa war ein guter Redner, vor allem, wenn es darum ging, ohne Vorbereitung ein paar schnelle treffende Anmerkungen zu platzieren.
Bei Mamas Geburtstag war alles anders. Ich habe ihn erwischt, wie er ein paar Wochen vor dem Fest in seinem Arbeitszimmer sitzend gegen die weiße Wand starrte und vor sich hin
murmelte. Es war die Probe für seine Geburtstagsrede für die „Präsidentin seines Fan-Clubs“.
Das ist meine Mama. Laut Opa schon seit ihrer Geburt. Und für die Präsidentin durfte nichts dem Zufall überlassen bleiben. Und genau das machte es so schwer für ihn. Wenn schon vorbereitet, dann richtig. Dann musste jeder Halbsatz sitzen, jedes Wortspiel treffen. Opa sagte immer, dass das Sprechen in Bildern mitten in die rechte Gehirnhälfte hineinwirkt, wo Bilder viele Tausend mal schneller verarbeitet werden, als Worte in der linken. Schon seltsam, dass das Blutgerinnsel des Schlaganfalls ausgerechnet seine rechte Gehirnhälfte
erwischt hat, wo die schönen Bilder wohnen. Was Opa wohl nun so sieht? Und wenn die Worte ohnehin in der linken Hirnhälfte wohnen, warum spricht er dann nicht mehr?
Jedenfalls hat er bei Mamas Geburtstag gesprochen. Mit einer anfangs sehr zittrigen Stimme.
Ich saß in seiner Nähe und habe beobachtet, wie sich während seiner Rede immer wieder dicke Tränentropfen am unteren Rand seiner Brille ansammelten, um dann immer wieder als
kleine Dammbrüche seine Backen runterzulaufen.
Ich habe mir von seiner Rede nicht viel gemerkt, eine kleine Anmerkung hab ich
mitgenommen. Opa erzählte von Mamas Geburt und wie er dabei war. Dass er hinter Oma stand, die sich bei der zweiten Presswehe ganz in den kurzen Ärmeln seines Polohemds verklammert hatte und beim letzten Ruck so fest anzog, dass Opa plötzlich ohne Ärmeldastand. Da hat Mama auch ein paar gerührte Tränen vergossen, obwohl sie doch die Geschichte wirklich schon auswendig runterbeten konnte. Das ist so beim Opa. Er erzählt manche Geschichten immer wieder gern. Und manche davon schon fast zu gerne.
Und meine Tante Lisa kann ihn auf ihre eigene Art immer wieder daran erinnern:„Schau, Papsi, ich glaube, die Geschichte kennen wir schon“, sagt sie immer und dabei legt sie ihren Kopf auf seine Schulter und streichelt seine Hand und dann musste der Opa immer grinsen und hat uns eine andere Geschichte erzählt. Eine, die er ein bisschen weniger oft wiederholt hatte.
Schon komisch: Mein Onkel Paul, der so lang ist, dass er immer den Kopf einziehen muss, wenn er durch die Tür kommt, der kann von Opas Geschichten gar nicht genug kriegen.
Er sieht das schon fast wie bei einer der alten Juke-Boxes, in die man Münzen einwarf, um eine Schallplatte zu hören. Onkel Pauls Münzen sind kleine Provokationen, die er gerne mit
einem Grinsen über den Tisch schleichen lässt. Das Grinsen ein bisschen schief und wenn das Licht günstig steht, kann man die kleinen Narben an seinen Unterlippen sehen. Die sind von den Piercings, die Onkel Paul als Teenager trug. Onkel Paul und Opa hatten so ein komisches
Code-Wort. Es klang so ähnlich wie „Hiteit“. Einmal hab ich mir ein Herz genommen und
Onkel Paul gefragt, was das heißt. Und er erzählte mir eine Geschichte.
Wie die ganze Familie – Opa noch mit der richtigen Oma zusammen – auf Sardinien auf Urlaub war. Und an einem faulen späten Nachmittag alle auf dem großen Doppelbett im klimatisierten Zimmer lagerten und durch die Fernsehprogramme zappten. Da war eine Sendung in einem englischen Programm über die alten Hethiter. Und der englische Kommentator sprach das Wort natürlich auch englisch aus. In Lautschrift: Hiteits.
Das hatte schon genügt, um Opa und Onkel Paul zu endlosen Lachstürmen hinzureißen.
Da schlug der Mühlviertler in Opa durch, der seine halbe Linzer Kindheit im Mühlviertel
verbracht hatte. Und die Mühlviertler sprechen in ihrer „Sprache“ das Wort „hindeuten“ so aus wie „hideiten“. Bis vor kurzem genügte dieses Schlagwort für Opa und Onkel Paul, um eine halbstündige Kaskade loszulassen, die immer so begann: „Wos is, wenn da Hiteit auf wos hideit?“
Dann hat Opa immer so gerne auf die Ohren vom Onkel Paul gedeutet. Die sind tatsächlich komisch. Onkel Paul hatte in seiner Jugend nicht nur Piercings in den Unterlippen, sondern auch Ohrstecker in den Ohrläppchen, die damals Löcher verursachten – mit etwa 2 cm
Durchmesser. Es gibt Fotos meines Onkels, da hat er sich durch diese Löcher Zigaretten
gesteckt. Heute sind die Löcher zugewachsen, aber man sieht noch so etwas wie sternförmige Narben rund um eine kleine Vertiefung. Opas bevorzugte Objekte des Spotts.
Opa hasst es, wenn er im nachhinein recht hat. Angeblich hat er damals immer wieder
warnend auf Paul eingeredet, er soll sich doch diese Trümmer aus den Ohren ziehen, er sieht aus, wie ein afrikanischer Stammeshäuptling. So jedenfalls hat Opa mir die Geschichte erzählt, Onkel Paul sieht das natürlich anders. So auf die Art:
Er hätte immer gewusst, dass
das alles einmal wieder zuwachsen würde und der Opa übertreibt wieder einmal maßlos.
„Laura-Schatzi, ich sage Dir: Es gibt nichts Schlimmeres im Leben, als hintennach recht zu haben. Ich hasse es!“ So hat Opa sich immer aufgeregt. Natürlich auch dann, wenn ich entgegen seinen
Ratschlägen einmal meinen eigenen Kopf durchgesetzt habe und manchmal damit gegen die Wand gerannt bin. Bei mir hatte Opa aber keine Chance und das wusste er auch. Schon alleine mein Vorname hat
ihn über alles getröstet, was seine Enkeltochter da und
dort verbockte.
Er hat mir erzählt, wie gerne er meine Mama Laura nennen wollte. Weil er eine Freundin aus Studentenzeiten hatte, die Laura hieß und ganz tragisch mit 28 Jahren an Darmkrebs gestorben ist.
„Laura-Schatzi, Laura heißt ´die Goldene´ und Du BIST meine Goldene“.
Ja, Opili, ich weiß – auch so eine Geschichte, die ich schon etwas besser kenne.
Jedenfalls war´s so, dass als meine Oma meine Mama in ihrem Bauch trug, eines der
typischen Familientreffen stattfand, bei dem mein Opa erzählte, er würde das Baby gerne Laura nennen. Daraufhin machte mein Uropa – Omas Vati – ein papageienartiges Geräusch
und sagte „Laura“ – so wie Papageien eben reden. Großes Gelächter am Tisch, großer Ärger bei Opa, aus war´s mit Laura. Meine Oma hat sich dann den Vornamen „Hannah“ für meine Mama gewünscht. Mit
H vorn und H hinten, ganz wie bei der biblischen Hannah, die eine recht resolute Frau gewesen sein soll. Ganz wie meine Mama.
Opa hasst Familientreffen. Immer schon.
Er liebt die kleine Runde. Maximal 3-4 Personen.
Das hat er mir erzählt, als wir einmal beide genug hatten von so einer Mega-Zusammenkunft.
Ich war damals 6 oder 7 Jahre alt und wir hatten uns zu einem runden Geburtstag versammelt – ich weiß nicht mehr, von wem aus der weitverzweigten Patchwork-Verwandtschaft.
Jedenfalls hat wieder einmal jemand sein „Kreuzworträtselwissen“ zur Schau gestellt, wie Opa zu sagen pflegte. Ich selbst hatte niemanden zum Spielen und habe sehr gelangweilt gegähnt. Das hat
Opa gemerkt und wir haben uns rausgestohlen. Zuerst zu einem nahegelegenen Spielplatz und dann auf ein Eis. Auf einer Parkbank haben wir das Eis geschleckt und Opa hat mir erklärt, warum er diese
„Klugscheißerei“ nicht mag. Das ist so etwas wie eine allergische Reaktion bei ihm. Die stammt aus der Zeit, als er noch zu den Familientreffen der Verwandtschaft meiner Oma mitging.
Egal, worum es bei diesen Treffen auch ging, immer fand sich jemand, der wie ein Lexikon zum grade besprochenen Thema Schulbuchwissen zum Besten geben musste. Opa nannte solche Leute
„Kreuzworträtselkönige“. Später – da war ich schon 12 oder 13 – hat er dann
augenzwinkernd ein anderes Wort benützt: „Bildungsbürgerliche Masturbation“.
Und hat sich fürchterlich zerkugelt, als die Tango-Oma ihn dafür zurechtwies, vor mir solche unanständigen Sachen auszusprechen. Opa konnte schon ein rechtes Ferkel sein.
Immer wieder hatte er irgendwelche unanständigen Witze in der Hinterhand. Die habe ich lange Zeit nicht verstanden, erst in den letzten zwei oder drei Jahren kam ich hinter die zotigen Pointen
und war immer wieder verwundert, wie jemand wie Opa solche Witze lustig finden konnte.
Es gibt Freunde Opas, die haben mir erzählt, was für eine Witz-Kanone er einmal war. Opa konnte, wenn er einen zweiten Witze-Erzähler als Gegenspieler hatte, ganze Abende mit seinem
unerschöpflichen Vorrat bestreiten. Irgendwann hat er damit aufgehört.
Und seine Freunde haben dann erstaunt festgestellt, dass Opa insgesamt besser drauf war. Sie behaupten, Opa hätte deswegen so viele Witze erzählt, weil er ganz tief drin sehr traurig war.
Und wie diese Traurigkeit weggeflogen ist, musste er nicht mehr so viele Witze erzählen. Ich kenne Opa nicht aus der Zeit der Traurigkeit. Ich kenne so vieles nicht, was passiert ist, als Opa
noch „jung“ war.
Er ist doch mein Opi und Opis sind nun mal älter. Und wenn er mich dann anschaut mit seinem schiefen Gesicht, kommt manchmal so eine Stimmung auf: Eine Mischung aus ganz viel Liebe und ganz viel
Leben, das ganz versteckt in ihm ist. Dann möchte ich so gern so viele Fragen stellen und habe zugleich so viel Angst, dass er mir doch
keine Antwort geben wird.
Seit ein paar Tagen habe ich einen Plan:
Ich werde einfach einige der Menschen fragen, die Opa gut kennen. Das ist dann, als würde ich Opa „googeln“, nur nicht im Internet, sondern in 3D. Ich schau mir „Opas Film“ an. Und mit dem
„großen Paul“ fange ich an.
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