Nähe. Unangenehm.

Besuch eines botanischen Gartens in Victoria/Vencouver Island. Meine Frau hat sich unter einer sehr kunstvollen Pergola in den Schatten gesetzt. Mit ihrer Handtasche belegt sie den Platz neben sich für mich. Eine Familie aus Asien (vermutlich Indien) nähert sich. Eine Frau setzt sich auf die Tasche meiner Frau und muss davon überzeugt werden, dass das nicht ihr Platz ist. Schlange stehen in New York. Eine Gruppe Chinesen stellt sich mitten in die Reihe der Wartenden. Vorher haben andere Reisende aus dem fernen Osten einfach den Durchgang aus einem Bistro verstellt und keine Reaktionen auf unsere Versuche nach freier Bahn gezeigt. Achtung! Kein Bashing! 

Das ist der Versuch, zu verstehen. Wir hatten auf unserer Reise in Nordamerika eine ungezählte Reihe solcher Erlebnisse. Nicht nur mit Asiaten. Eine U-Bahnfahrt kann schon ungemütlich werden, wenn eine Gruppe von sechs jungen Hispanics qua Lautstärke den ganzen Waggon majorisiert und niemand – auch ich nicht – den Mut oder die körperliche Dominanz aufbringt, sich den Gefahren eines Protests auszusetzen. Wir haben uns oft darüber unterhalten, was zu diesem Dilemma an unverträglichen Verhaltensweisen führt. Unsere Vermutung: Menschen, die es gewöhnt sind (sein müssen) auf nächster Nähe mit dem Mitmenschen zu leben, haben weniger Scheu vor enger Nähe und/oder weniger Sensorium für das Bedürfnis nach Abstand. Oder: Wer durchaus auch physisch seine Ellenbogen braucht, um voranzukommen, setzt diese auch mental ein. Hier stoßen zwei ganz verschiedene Kulturen aufeinander, die sich gar nicht so unterschiedlich äußern. Die „westliche“ Ellenbogengesellschaft zeigt ihren Egoismus durch brutale Mentalitäten in der Sicherung und Durchsetzung der individuellen Ziele, während die vermeintlich „östliche" Ellenbogengesellschaft diese Körperteile auch physisch einsetzt, um nicht übrigzubleiben.

Wir bewegen uns auf eine neue Form der sozialen und ökonomischen Konkurrenz zu. Und wir verlieren zunehmend die kulturellen Techniken für den notwendigen Dialog. Viele Stunden auf Flughäfen und in öffentlichen Verkehrsmitteln haben viel Zeit für ausführliche Beobachtungen geschaffen. 

Egal, welcher Herkunft: 3-4 Jährige sitzen schweigend  mit Tablets auf den Knien, drücken und wischen mit atemberaubender Geschwindigkeit, während Eltern und Geschwister sich mit ähnlichen Tools beschäftigen. Da war es eine eklatante Ausnahme, als der Vater einer großen Familie auf einer langen Fährfahrt seine halbwüchsigen Söhne zu einem Kartenspiel aufforderte und die auch mitmachten.

Wir werden jeden Tag mit immer größeren Unterschieden konfrontiert und verlernen täglich mehr, wie man durch direkte Kommunikation mit diesen Unterschieden umgeht. 


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