Omi. 109.

Heute wäre meine Omi aus Steyr 109 Jahre alt geworden. Also ein Alter, wo sich normalerweise Fragen wie „Was wäre, wenn sie so alt geworden wäre …“ erübrigen. Für mich ist sie immer noch präsent. Zwei mal habe ich sie schon auf Facebook ausführlich gewürdigt und da hat sie sich sogar ein paar begeisterte Fans eingehandelt. Das hätte sie zu Lebzeiten durchaus gefreut – Huldigungen hatte sie gern – sogar bezahlte. 

Was mich, je älter ich werde, immer mehr fasziniert, ist das Frauenbild, das sie mir vermittelte. Auch eine meiner Alterserscheinungen: Ich bin zunehmend bereit, meinen eigenen Erinnerungen den Vorrang einzuräumen gegenüber Erzählungen, die andere Menschen mir vermittelt haben. In meiner Erinnerung sehe ich meine Omi als Inbegriff der Hedonistin, die den Reichtum, für den sie seit früher Jugend hart gearbeitet hatte, auch zu genießen imstande war. Sie war buchstäblich allen Genüssen aufgeschlossen und konnte das mit einer Großzügigkeit anderen gegenüber kombinieren, dass es fast schon lasterhaft wirkte. Sie war auch ein unbeugsamer Machtmensch. Wer sich ihr gegenüber eine kleine Blöße gab, wurde unbarmherzig in die Einzelteile zerlegt. Devotes Verhalten war die Einladung zur Leibeigenschaft. Resolute Haltung flößte ihr aber Respekt ein. Als ich 14 war, wollte eine Allianz bestehend aus meinen Eltern und Omi mich nach Pinkafeld schicken, damit ich in der dortigen HTL das ehrbare Installateur-Gewerbe erlerne. Eine absurde Idee – bei meiner unterhalb der Null-Linie vibrierenden technischen Begabung. Meine Eltern hatte ich bereits umstimmen können, aber Omi blieb noch zu knacken. Es kam zu einem Showdown an unserem Esstisch. Hannes vs. Omi. Zuschauer: Meine Eltern. Ich erklärte ihr, dass mich dieser Beruf zu einem hoffnungslosen Loser machen würde und auch das in Aussicht gestellte Erbe des Familienbetriebs mit all seinen materiellen Segnungen kein Anreiz wäre. Omis Reaktion: „Kann schon sein. Aber dann befehle ich es Dir.“ „Omi, Du kannst mir nichts befehlen. Das nützt nichts.“ „Da hast Du allerdings recht.“ Das war der Beginn der Augenhöhe zwischen Omi und mir. Wir hatten diverse Diskussionen – auch solche, wo es mir leider nicht gelang, sie von fatalen Irrtümern abzubringen. Aber wir waren Freunde. Wenn ich Liebeskummer hatte, fuhr ich zu ihr. Sie hatte eine Schachtel „Milde Sorte“ vorrätig – weil die waren „gesünder“ als andere Zigaretten. Sie verstand etwas von Liebeskummer – aktiv und passiv. Sie zeigte mir, wie man den Spagat zwischen einem absolut matriarchalischen Führungsstil und einer echten sozialdemokratischen Gesinnung schaffen kann. Sie war mutig und konnte – ganz nach Belieben – weibliche „Schwächen“ vortäuschen und brutal erpresserisch einsetzen. Omis taktische Ohnmachten waren legendär, insbesondere am Steyrer Verkehrsamt, wo sie nach jeder der 5 misslungenen Führerschein-Prüfungen ohnmächtig rausgetragen werden musste. Sie war sexy. Ja, meine Omi war sexy. Auf eine hochelegante Art. Oder auch mit einer Direktheit, die jede Scham im Keim erstickte. Sie war einsam. So unfassbar einsam. Weil die Schar der bezahlten Lemuren verschwunden war, als es nichts mehr zu holen gab. Sie war eine ganz fürchterliche Mutter. Aber als (meine) Omi war sie Weltklasse. Prost, Omi, das Fläschchen vom Roten geht heute auf Dein Wohl (und Du wirst mich auch dieses Mal nicht untern Tisch saufen) ❤

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Brigitte (Dienstag, 21 August 2018 21:09)

    Du beschreibst Deine Omi so liebevoll und lebhaft Hannes, malst ein Bild von ihr das mich schmunzeln lässt und nachdenklich macht. Ein Bild mit Licht und Schatten, Höhen und Tiefen, eine interessante, schöne, menschliche Landschaft.
    Danke für für's Teilen dieser schönen Erinnerung