Auch wenn ich einer von denen bin, die sehr unglücklich sind, dass Sie das Amt des Bundeskanzlers ausüben, spreche ich Sie als „sehr geehrt“ an.
Weil ich in jedem Fall das Amt ehre – trotz meines großen Widerstands gegen den Inhaber.
Weil ich sehr froh bin, dass wir in Österreich seit 1945 (wieder) einen Bundeskanzler haben und keinen Reichskanzler mehr. Weil tausende Österreicher und Österreicherinnen bis zum Verlust ihres Lebens gelitten haben, damit es dieses Amt wieder gibt.
Vielleicht können Sie sich nicht vorstellen, wie es jemandem wie mir geht.
Ich bin Jahrgang 1958 und habe drei Kinder – meine älteste Tochter ist genau so alt wie Sie. Zum ersten Mal in meinen bisher 60 Lebensjahren mache ich mir Sorgen um die Demokratie in Österreich. Und das hat sehr viel mit Ihnen zu tun.
Jedes Mal, wenn Sie wieder kein Gespür haben für das dauernde Grundrumoren, das all jene verursachen, die die Grundfesten unserer Verfassung und des Rechtsstaats unterminieren.
Jedes Mal, wenn Sie mit bildungsloser Dumpfheit Begriffe und Formulierungen benützen, die historisch kontaminiert sind und die ein sensiblerer Mensch als Sie einfach reflexartig nicht einmal denken, geschweige denn aussprechen würde. Jedes Mal, wenn Sie selbst oder – mit Vorliebe jemand aus der Riege Ihres Koalitionspartners – an der Ethik und der Pragmatik der EU Sprengsätze anlegen, krampft es mir das Herz zusammen.
Seien es die unerträglichen Anschläge gegen die Pressefreiheit oder gegen den Verfassungsschutz oder gegen die Rechte von ArbeitnehmerInnen oder mit grausamer Selbstverständlichkeit gegen die Rechte und das Leben von Schutz-Suchenden:
Jedes einzelne Mal sind Sie entweder der Treiber oder der Dulder von Aktivitäten,
die in Niedertracht und Abscheulichkeit münden.
Ich bin zutiefst wütend und aufgebracht, wenn ich diese Serie von Gnadenlosigkeit und erbarmungsloser Verachtung gegen alles, was mir lieb und wert ist, beobachten muss.
Und – auch ein Novum in meinem Leben – zum ersten Mal spüre ich, dass die üblichen Mittel zivilen Widerstands wirkungslos an Ihrer Kaltschnäuzigkeit abprallen. Ich bin zum Beispiel ganz sicher, dass Sie aus New York wieder keine Distanz zu den Anschlägen auf die Pressefreiheit gefunden hätten, wenn nicht der Bundespräsident auch dort gewesen wäre.
Und diese eiskalte Abwesenheit selbstverständlicher Standards demokratischer Kultur kann einen wie mich schon ganz schön in Rage bringen.
Ich habe mir auch schon abgewöhnt, darauf zu hoffen, dass irgendwer in der ehemaligen ÖVP oder jemand aus Ihrer türkisen Wählerschaft den Mumm aufbrächte, Sie zur (Staats)Räson zu bringen. Zu sehr sind all diese Menschen im Zweifel für eine Regierung, in der die verhassten Sozis nichts zu melden haben.
Da schluckt man allerweil noch die Krot der sich immer unbekümmerter faschistisch aufführenden FPÖ und sieht hinweg über die immer mehr verrottenden letzten Reste politischen Anstands.
Dafür – dafür! – tragen Sie persönlich die Verantwortung. Sie sind dafür verantwortlich,
auch wenn Ihnen offensichtlich der banalste Sensor für politische Kultur und ethische Standards fehlt. Denn wenn der Bundeskanzler der Republik Österreich der Meinung ist,
die Grenze gegen faschistische Umtriebe wäre das Strafrecht, dann haben Sie nicht nur etliche Semester Ihres Jus-Studiums versäumt, sondern auch und vor allem das tiefste Level von politischer Bildung unterschritten.
So bleibt mir nichts anderes übrig, als wenigstens in meinem direkten Umfeld an demokratische Selbstverständlichkeiten zu erinnern und meinen Großvater als politischen Leitstern zu nützen, der wegen seines Widerstands gegen die Nazis in Gestapohaft gesperrt wurde. Aber auch das war vor Ihrer Geburt, wie Sie so gern zu sagen pflegen.
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Gerhard (Mittwoch, 26 September 2018 21:25)
Word �
Karin (Mittwoch, 26 September 2018 23:09)
Großartig - dem ist nichts hinzuzufügen !!
Souza Seethaler (Mittwoch, 26 September 2018 23:16)
Ja leider ist das im Moment so. Und gerade deswegen dürfen wir das nicht so hinnehmen und schweigen, sondern immer wieder aufstehen und das aufzeigen, was schief läuft - bevor es zu spät ist.
Linda Woess (Donnerstag, 27 September 2018 02:57)
Vielen vielen vielen Dank für diesen Brief! Auch wenn er bei der Person, an die er gerichtet ist, auf taube Ohren stoßen mag, mir hat er unendlich wohl getan. Darf ich ihn kopieren und weiterverteilen?
Agnes (Donnerstag, 27 September 2018 04:43)
Dankeschön für die diese Zusammenfassung! Ich teile sie 100%-ig!
Vera Cerha (Donnerstag, 27 September 2018 07:08)
Danke— Sie sprechen aus Hirn und Herz und mir aus der Seele!
Gabi (Donnerstag, 27 September 2018 07:38)
Vielen Dank für Ihre Zeilen und Postings!
Dank BM Kikl und der FPÖ kann sich unser BK mehr oder weniger lange als „Sonnenkönig“ fühlen! Hoffentlich weniger lange...!!!
Birgit (Donnerstag, 27 September 2018 11:07)
Vielen herzlichen Dank!
Unser Bubikanzler ist auch für mich schlimmer noch als die FPÖ...
Sie haben das ganz trefflich formuliert!
Astrid (Donnerstag, 27 September 2018 11:20)
Danke für diese klaren Worte!
yarda (Donnerstag, 27 September 2018)
Sehr schon verpackte, aber trotzdem unglaubliche bla bla bla. Es tut mir leid?!
Monika Wiesinger (Donnerstag, 27 September 2018 13:16)
Danke Danke es tut so gut, dass ich mit meiner Ansicht nicht allein bin!�
Peter Sohar (Donnerstag, 27 September 2018 14:07)
Sie irren sich, Kern ist schon lange nicht mehr BK und hat sich eh schon verabschiedet. Aber selbst bei ihm stimmen diese Dinge nicht, also, hetzen Sie ruhig weiter, Geschrei und Schönfärberei hilf manchmal bei Niederlagen :-)
Barbara (Donnerstag, 27 September 2018 14:20)
Du sprichst mir aus der Seele.
Gertrude Weber (Donnerstag, 27 September 2018 15:28)
Grossartig, danke für diesen hervorragenden Brief, Du sprichst mir aus der Seele
Karin Kristl (Donnerstag, 27 September 2018 16:01)
Ich bin 100%ig ihrer Meinung.
Horst (Donnerstag, 27 September 2018 17:00)
Vielen Dank für diesen sehr treffenden Beitrag. Muss dir leider in jedem Wort recht geben.
Schorsch (Donnerstag, 27 September 2018 21:36)
Vielen Dank für diesen richtigen, wichtigen und guten Brief!
Gaby STANEK (Freitag, 28 September 2018 03:15)
...besser kann man es nicht beschreiben, was wir mittlerweile fühlen & befürchten....vielen Dank für das großartige Statement!
A (Freitag, 28 September 2018 08:04)
Danke! Sie bringen all meine Gedanken und Sorgen auf "Papier"!
scharfetter sebastian (Freitag, 28 September 2018 11:13)
Danke für die gesunde Mischung aus Hirn , Herz und Bauch...was mich zusätzlich ärgert: wie er seinen Vorgänger abservieren ließ, jetzt erntet was er nicht gesät hat( ausgeglichenes Budget), das (christliche ) Menschenbild und die NGO`s als naiv abqualifizieren lässt, nach außen hin nicht streitet, aber hinten herum das Hackl schmeißt...
Lutz Bürgel (Freitag, 28 September 2018 12:13)
Auch als ansässiger Nichtösterreicher teile ich Ihre vortrefflich formulierte Meinung, Einschätzung und Bewertung!!
Uli Kratschmar (Samstag, 29 September 2018 08:53)
Dem ist nichts hinzuzufügen!
Sie sprechen mir aus der Seele, danke dafür!
Harry Marte (Samstag, 29 September 2018 10:52)
Chapeau!
Barbara Laimer (Samstag, 29 September 2018 11:15)
Danke!
Jessernig Anton (Samstag, 29 September 2018 17:15)
Bin sprachlos, unbeschreiblich berührt
Ulrike Gross (Montag, 01 Oktober 2018 11:12)
Danke für diese mutige Darstellung!