Auf der Landstraße in Linz steht der Klosterhof. Ein seit Generationen in Linz fest verankertes Wallfahrts-Juwel für alle, die sich an der sogenannten gutbürgerlichen Küche und einem sehr gepflegten Stiegl-Bier ergötzen möchten.
Schon lange, bevor der Klosterhof seinen Magnetismus für uns pubertierende Früh-Erwachsene entwickelte, hatte er einen fixen Platz in meiner Kindheit eingenommen. Jedes Wochenende – entweder Samstag Abend oder Sonntag Mittag – führte mein Vater seine Familie zum Essen in diesen state-of-the-art Linzer Selbstzufriedenheit, der doch immer wieder auch in eine Brutstätte originaler Gemütlichkeit ausartete.
Stets dabei: Die Familie meines Firmpaten und besten Freundes meines Vaters – Onkel Karli, dem ich schon ein Denkmal in meinem Blog gebaut habe. Plus Michi, Onkel Karlis und Tante Hildes Sohn. Michi und ich sind altersmäßig nur exakt drei Wochen voneinander entfernt.
Der Klosterhof hatte für uns Buben geradezu unendliche Weiten zur Verfügung. Zwei riesige Stockwerke mit Gastzimmern unterschiedlichster Ausstattung. Im Erdgeschoss das Bierlokal. Rustikal, mit schweren Tischen und groben Bänken und ebenso grobem Personal.
Gegenüber im Erdgeschoss das gediegene Stüberl mit beflissenen Kellnern und -innen, schwerem Tuch auf den Tischen, Stoffservietten und silbernem Geschirr.
Ebenfalls im Erdgeschoss: Das Aquarium, reich bevölkert mit Karpfen und Forellen und – Sensation! – man konnte sich „seinen“ Fisch selbst aussuchen und der Kellner fischte das zappelnde Geschöpf vor den gierigen Augen des Gastes aus dem Wasser.
Über eine alte Steintreppe erklomm man den Weg in den ersten Stock. Dort war ein riesiger Speisesaal mit jenen großen romanisch geschwungenen Fenstern, die mir seit meiner Kindheit immer wieder so gut gefallen. Dann gab es – abgetrennt vom Speisesaal – noch ein verglastes Separee für all jene, die zwar separiert vom gemeinen Volk sitzen wollten, aber trotzdem beim Tafeln gesehen werden wollten. Und – ganz wichtig: Das Jagdstüberl mit allerhand ausgestopftem Getier an den Wänden. Weiter hinten im ersten Stock war noch ein weiterer Speisesaal eingerichtet. Der sah so aus, als würden sich dort würdige dickbäuchige Chorherren durch reichlich lukullische Freuden über die Abwesenheit anderer körperlicher Genüsse trösten.
Was ich noch gar nicht erwähnte, aber dem Klosterhof seine saisonale Unentbehrlichkeit verlieh: Der Gastgarten. Gekiest, mit alten Kastanien bewachsen und gesäumt von hölzernen Arkaden, unter denen man auch entspannt dem sommerlichen Regen das Tröpfeln in die Leberknödelsuppe verwehren konnte.
Der Gastgarten war für jeden Schüler – man verzeihe mir die maskuline Form, weil Schülerinnen fanden doch nur in der Minderheit dorthin – die Pflicht-Anlaufstelle, um dort die Pein des Lernens in diversen Krügerln zu ertränken und insbesondere das Ende der Schuljahres-Fron zu zelebrieren. Ganze Schüler-Schicksale wurden in Hektolitern des Gerstensafts gebadet und einem zumindest befristeten Vergessen überantwortet.
Was mich als Kind schon unendlich faszinierte, war der altösterreichische Stil, mit dem die livrierten Kellner die gutsituierten Herren umschwänzelten. Jeder einigermaßen zahlungsfähige männliche Gast wurde mit einem Titel versehen, der unabhängig von seiner realen Existenz auch gleich den Ehefrauen mitverliehen wurde.
Mein Onkel Karli war beispielsweise im „wirklichen Leben“ ein HTL-Ingenieur, was die Kellner im Klosterhof nicht weiter kümmerte: Für sie war er der Herr Professor. Und mein Vater – sehr stolz auf seinen Direktors-Titel in der Baumaschinen-Firma, die er leitete – avancierte – gar nicht unpassend – zum Herrn Ingenieur. Entsprechend war meine Tante Hilde – im profanen Leben eine Volksschul-Lehrerin – die Frau Professor und meine Mutter – eine leidenschaftliche Hausfrau – die Frau Ingenieur.
Ein wahres Paradies kulinarischer Mysterien war die Speisekarte. Da fand man das legendäre Kalbsschnitzel „Holstein“. Serviert auf einer Platte mit unterschiedlich großen Abteilungen. Inmitten thronte das Kalbsschnitzel „natur“, gekrönt von einem Spiegelei, auf dem man einen Sardellenring exakt mittig platziert hatte. Umrahmt wurde das Filet von Cremespinat, Röstkartoffeln, gedünsteten Karottenscheiben und – einer Spalte Pfirsich frisch aus der Kompott-Konserve!
Ein weiteres Juwel der gastronomischen Saturiertheit war der Lungenbraten Wellington.
Den gab es nur zu hohen Feiertagen und er war der speichelflussfördernde Anziehungspunkt meiner Mutter. Ein besonderes Ritual war das Auftragen der Suppe. Die weit über die oberösterreichischen Landesgrenzen berühmten Leberknödel und Grießnockerl wurden in Aluminiumschalen mit elegant geschwungenem Henkel auf schweren Tabletts herangekarrt. Dann demonstrierte das Personal seine hohe Kunst: Über dem leeren Suppenteller wurde die Aluminiumschale mit spitzen Fingern (heiß!) in quälender Langsamkeit so gekippt, dass sich zuerst die duftende Rindsuppe in den Teller ergoss und erst ganz zum Schluss der Knödel oder die Nockerl (Nockerl: immer zwei!) in das Suppenbad glitten.
Einem geheimnisvollen Ritual folgend wurden beim Suppenessen immer zuerst die Eltern der anwesenden Eltern besprochen. Einen Spitzenplatz in der Rangreihe der Empörungen hatte meine Omi aus Steyr, dicht gefolgt von meinem Opi – ihrem geschiedenen Mann – und erst dann kamen Onkel Karlis Oldies dran.
Spätestens bei der Hauptspeise konnten wir Buben der tiefenpsychologischen Analyse unserer gymnasialen Professoren nicht entkommen. Bei gutem Wind erschöpfte sich das anwesende Erziehungspersonal im Beklagen der pädagogischen Katastrophen, die dem Jungvolk angetan wurden. Bei schlechtem Wind drehte sich der Fokus gegen uns und die himmelschreiende Faulheit, derer wir uns befleißigten.
Dann war es Zeit, den Tisch zu verlassen und zum Aquarium zu flüchten.
Die Karpfen und Forellen dämmerten dort ihrem unvermeidlichen Hinscheiden entgegen, hatten uns aber sonst nichts zu sagen.
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