Denkmäler. Vati.

Heute hätte sich mein Vater ganz bestimmt sehr gefreut. Seine erste Enkeltochter hat ihr Studium abgeschlossen. So etwas hat ihm immer imponiert - ganz abgesehen von der großväterlichen Liebe, die er für Lisa im Rahmen seiner Möglichkeiten gerne gezeigt hat. 

Mein Vater wurde 1926 in Hohenfurth in Südböhmen geboren. Seine Vorfahren lebten schon lange in dieser Gegend. Mein Großvater und seine zahlreichen Verwandten waren tief verwurzelt mit dem Land und der manchmal recht groben Mentalität seiner Bewohner. Opi war im Ersten Weltkrieg mehrfach verwundet worden, kämpfte in fünf Isonzo-Schlachten und war ein Haudegen, der sich von nichts und niemandem etwas gefallen ließ. 

Mein Vater wurde sechs Jahre nach seiner Schwester geboren. Meine Tante Herma war ihrem Vater sehr ähnlich. Und genau deswegen hatten Vater und Tochter auch lebenslang immer wieder ordentlich Streit. Vati kam mehr nach seiner Mutter. Eine feinsinnige Frau, die gerne auch im schönsten Sonnenlicht nach den Wolken Ausschau hielt und meinen Opi in vieler Hinsicht auf Distanz hielt. 

Wie so oft in vielen traditionellen Familien erhob mein Großvater sehr klare Ansprüche an den Werdegang seines Sohnes. Der sollte einmal das Familien-Imperium erben. Immerhin die modernste Bäckerei in Südböhmen, großen Waldbesitz, ein Fuhrwerksunternehmen und Immobilien. Mein Vater hingegen war ein in jeder Hinsicht zarter Mensch. Feinsinnig, musisch begabt. Körperlich ein typischer Leptosomer - groß, schlaksig, ziemlich unsportlich. Wohl wurde er von Opi mit allem versorgt, was ein gutsituierter Sprössling in der damaligen Zeit so haben konnte: Zum Beispiel auch ein Motorrad, mit dem der 13-jährige Sohn des Bürgermeisters die Toleranz der örtlichen Gendarmen ordentlich strapazierte. Die Leidenschaft meines Vaters lag in der Grafik und den Tönen. In beidem strikter Autodidakt, gewann er einen Zeichenwettbewerb und betörte das Herz der Musiklehrerin, der er zuerst auf der Geige, dann am Klavier und der Ziehharmonika Musikstücke nachspielte, die sie ihm vorher vorspielen musste. Vati hat zeitlebens nie Noten lesen können. Ihm genügte sein Gehör, um alles fehlerfrei nachspielen zu können. 

Brav befolgte er die Ignoranz seiner Eltern, die ihn nach Karlsbad auf die Handelsakademie schickten. Dort - schon in der Nazizeit - lernte er die alte Schule der Eleganz. Niemals Hut ohne Handschuhe und umgekehrt. Handküsse, die er auch später vollendet elegant applizierte. Französisch, mit sehr schöner Intonation und langanhaltender Vokabelsicherheit. Tanzen mit natürlichem Taktgefühl und - Ausnahme! - guter Führung der Partnerinnen. Mit den Damen hatte es mein Vater nicht so sehr. Er war tatsächlich ein fescher junger Mann (und sah auch später lange Zeit noch ziemlich gut aus) und dementsprechend gab es durchaus einige weibliche Schönheiten, die gerne mit ihm ein tete-a-tete riskiert hätten. Allein: Aus heutiger Sicht bin ich ziemlich sicher, dass Vati viel glücklicher mit einem Mann geworden wäre.

Eine Option, die in der damaligen Zeit keine sein durfte.

1944 wurde er in den Kriegsdienst einberufen, war in Frankreich als Funker und fiel bei Kriegsende in französische Gefangenschaft. Bis 1946 war er in einem Lager im Zentralplateau, dann ermöglichte ihm der Baron des kleinen Ortes, wo sich das Lager befand, einen gefakten ärztlichen Befund und Vati durfte nach Hause.

Das stimmt so natürlich nicht: Er hatte kein Zuhause mehr, denn die Russen waren in die Tschechoslowakei einmarschiert und die Tschechen warfen die Deutschen aus dem Land. Die einzige in meiner Familie, die aus dem grausamen Exodus keine revanchistischen Gelüste ableitete, war meine Tante Herma. Sie sagte mir immer: So wie sich die Deutschen in der Besatzungszeit aufgeführt hatten, durften sie keine Gnade von den Tschechen erwarten - unabhängig davon, ob sie die Tschechen wirklich unterdrückt hatten, oder nicht. 

So kam mein Vater im Frühsommer 1946 in Linz an. Mit einer kurzen Lederhose, einem Unterhemd und einer Trachtenjoppe bekleidet. Seine Eltern und seine Schwester waren schon da und lebten in einem Barackenlager. Mit viel Glück und Zufällen aus der Bekanntschaft seiner Schwester ergatterte Vati nach sehr kurzer Zeit einen Job bei einer Baumaschinen-Firma. Da waren der Eigentümer und er. Und die beiden bauten die Firma auf. Über 35 Jahre lang. Zu ansehnlicher Größe. 

Und schon sprang der familiäre Druck wieder an. Seine Eltern und seine Schwester erwarteten sich die Wiederherstellung der gutsituierten Situation vor Kriegsende.

Der Bub sollte eine gute Partie machen. War ja wohl das mindeste.

Der beste Freund meines Vaters - mein geliebter Onkel Karli - wurde eingespannt und war tatsächlich sehr erfolgreich. In Steyr gab es die Installationsfirma meiner Omi. Und Omi hatte eine sehr hübsche Tochter, die dringend unter die Haube musste, damit ihrem liderlichen Lebenswandel ein Ende gesetzt werden konnte.

Und es funktionierte. 1957 haben meine Eltern geheiratet. Alles schien seinen braven Gang der Erwartungen zu gehen. Die Ehe meiner Eltern war ein großes Unglück für beide. Die dem Leben und seinen Freuden sehr zugeneigte Frau war mit einem Mann verheiratet, der sich in seinem Beruf vergrub, wenig Sensorium für das Weibliche hatte und wahrscheinlich viel lieber Barpianist geworden wäre. Statt dessen vermarktete er Baumaschinen und ich weiß heute noch, wie er mir als kleinem Jungen den Zungenbrecher "Kletterstangenzahnradaufzug" beibrachte.

Immerhin: Die materiellen Rahmenbedingungen wurden immer angenehmer, die Autos immer schöner und die Haushaltsgeräte immer automatischer. Und das Unglück meiner Eltern immer größer. 

Vati lebte ein Leben, das ich meinem schlimmsten Feind nicht wünschen würde. Ständig neben den Talenten und Veranlagungen herstolpernd, dem Druck der materiellen Vermehrung unterworfen und fast immer unfähig, die Liebe zu seinen Söhnen (die er ganz sicher empfand), angemessen zu zeigen. Er war das Misstrauen in Person. Die unübersehbaren Begabungen von mir und meinem Bruder waren ihm ein unlösbares Rätsel. Schulische Leistungen wurden nur mit großer Verspätung als ehrlich erworben anerkannt und der arme Teufel konnte nicht einmal seine Freude ordentlich zeigen. Denn worüber er sich hätte freuen können, entsprach nicht seinem Masterplan, den er in treuer Kopie seines eigenen Vaters auf uns übertragen wollte.

Wirtschaft, Technik - das waren akzeptierte Disziplinen. Kunst, Sprachen, Philosophie "brotlose Zünfte".

Bis heute rätselhaft ist mir seine kryptische Art, Loyalität zu zeigen. Die war in Krisensituationen durchaus abrufbar und ausnahmslos effektiv. Bei schönem Wetter wollte sie nicht anspringen.

Irgendwann kippte sein System. Der Zwang, emotionale Defizite materiell zu kompensieren, muss ihn in arge finanzielle Bedrängnis gebracht haben. Wahrscheinlich konnte er den Standard, den er glaubte, uns bieten zu müssen, schon eine ziemlich lange Zeit aus seinen Einkünften nicht mehr finanzieren. Dies und die schon lange schwelende Alkoholkrankheit mussten eine verheerende Wirkung gehabt haben. Mit 55 Jahren erlitt er drei schwere Schlaganfälle. Die damalige Medizin konnte erstmals mikrochirurgische Operationen ermöglichen, mit denen die Blutversorgung im Gehirn sogar wieder einigermaßen repariert wurde. Trotz dieser fast wundersamen Möglichkeiten ließ Vati nichts unversucht, sein Leben abzukürzen. Alkohol, Nikotin in schrecklichem Übermaß veränderten seine körperlichen Befunde und seine Persönlichkeit. Es wurde immer schwieriger, in der morbiden Hülle den Menschen zu finden, der einst auf der Hammond-Orgel "On the street, where you live" gespielt hatte und im Smoking einen eleganten Foxtrott aufs Tanzparkett zauberte. 

Kurz vor seinem Tod war ich bei ihm und rasierte ihn im Krankenbett. Da fiel uns beiden ein, dass er selbst diesen Dienst auch seinem moribunden Vater erwiesen hatte. Und ich lud ihn scherzhalber auf ein Achterl meines Blutes ein, weil seine Blutkonserve die gleiche Blutgruppe wie meine auswies. Das hat ihm einen großen Stein vom Herzen gerollt. So viele Jahre war er sich nicht sicher gewesen, ob ich wirklich sein Sohn wäre. 

Vati. Heute bin ich selbst ein Vater und ein Opi. Und ich hatte mich so lange bemüht, aus Deiner Vater-Rolle eine Blaupause für mich abzuleiten. So lange bin ich daran gescheitert. Bis mir endlich klar wurde, dass Deine Liebe darin bestand, Dich mit all Deiner Kraft in ein Leben zu fügen, das Du so nicht führen wolltest und das Du trotzdem ausgehalten hast. Um einen so unermesslich hohen Preis. 

Als meine Tochter Lisa mir zu meinem 60er eine so liebevolle Laudatio hielt (ihr "Ritterschlag"), da habe ich Dich zu mir gebeamt. Damit Du siehst, dass aus Deinem Sohn etwas geworden ist, auf das Du ganz sicher stolz sein kannst. Und dann haben mein wunderbarer Bruder und ich Musik gemacht. Das hätte Dir gefallen. War zwar kein Swing, aber ein sehr ehrlicher Rock ´n´ Roll. Aus den 50er-Jahren, die Dir so fremd gewesen sind, mit Deiner Vorkriegserziehung und Deiner kaputten Biographie.

Heute denke ich an Dich. Das ist Dein Denkmal.

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Platzer Maximilian (Dienstag, 16 Oktober 2018 00:07)

    Wunderschön mit großer Einfuehlsamkeit geschrieben. Ich waere glücklich so eine Familiengeschichte schreiben zu können. In meiner Familie gab es aenliches nur nicht so schön überliefert und leider fast immer mit schlechten Ausgang. Glücklicher der Du das schreiben kannst!