Kreisky hat geweint.

1963, während er als österreichischer Außenminister die Ermordung von John F. Kennedy betrauerte. Ich war damals 5 Jahre alt und hab es im Fernsehen gesehen. Viele Jahre später saß ich ihm als Dissertant gegenüber. In dem nach ihm benannten Zimmer am Ballhausplatz. Und noch ein paar Jahre später sah ich in der Kreisky-Villa das Foto mit ihm und John F. Kennedy und die herzliche Verbundenheit, die es ausstrahlt. 

1968 stand ich am 21. August mit meinem Vater im Wald am Schlagbaum an der Grenze zur Tschechoslowakei unweit von Bad Leonfelden, wo wir einen der besonderen und besonders seltenen Vater-Sohn-Urlaube verbrachten. Durch das Fernglas konnten wir sogar dort die Panzer des Warschauer Pakts beobachten. Der Prager Frühling wurde niedergewalzt. Ebenfalls 1968: Als 10-Jähriger im Fernsehen fassungslos sehen, wie die Studenten in Paris die Pflastersteine rausreißen und gegen die Polizisten schleudern. De Gaulle tritt zurück und Vati vermisst ihn, weil der so schönes Französisch gesprochen hat.

Nochmal 1968. Aufnahmsprüfung ins Gymnasium. Eine so absurde Hürde eines elitaristischen Schulmodells. Es fällt mir alles leicht. Mutti hört trotzdem nicht mit dem Rauchen auf, obwohl sie es als Einsatz eines Gelübdes für mein Durchkommen versprochen hatte.

1969. Innerhalb von nur zwei Monaten waren mein Opi und mein Onkel gestorben. In der Nacht vor dem Begräbnis meines Onkels war Neil Armstrong am Mond gelandet.

1973. Die Ölkrise. Zum ersten Mal eine Wirtschaftskrise, die ich miterlebe. Sollte zum zyklischen Grundrauschen werden. Vati im Stress. Vorher gestöhnt: Hochkonjunktur! Nachher: Krise! 

1975. Schulsprecher im Khevenhüller-Gymnasium. Eine wunderbare Zeit. Das „Politische" wacht auf. Die Kreisky-Jahre auf voller Reiseflughöhe. Ich aber noch stramm konservativ.

Bundesheer. Wichtigste Erkenntnis: Nur dort kann konsequent der Blödere dem Gscheiteren was anschaffen. Und: Die Knödel schwimmen oben, wenn sie durch sind.

Studieren in Wien. Politisches Wachsein. Großartige Lehrer. Wunderbare Freunde. Präsident Carter trifft Leonid Breschnjew in Wien und umarmt den verdutzten russischen Bären. Reagan beginnt das Wettrüsten und ich bin auf der Straße bei den Friedens-Demos. Vor mir ein Transparent: „Lieber Rotwein als Tot-Sein". Klinkenputzen beim Telekabel. 2500 Haushalte. Alles sehen. Armut, Alkohol, Gewalt, Spießbürgertum, Einbauschränke, Farbfernseher, VW Passat.

1983. Promotion. Job-Suche. Aus „Notwehr" ins Kommunikations-Geschäft. Ein 20-jähriges „Provisorium" beginnt. Typisch Österreich.

Kreisky verliert die Wahl. Die rot/blaue Koalition. Der Sündenfall. Mit dem politischen Gallert namens Steger. Und dem politischen Attentäter Haider schon in den Startlöchern. Dann die Vranitzky-Jahre. Aus heutiger Sicht gloriose Zeiten. Das Schuldbekenntnis gegenüber dem Holocaust. Und das politisch-moralische Gegengewicht zu Waldheim. Die Spaltung des Landes in Unversöhnlichkeit. Bis heute. 

Seit damals glaube ich nicht mehr an die Beschwörungen, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen.

1984: Während in Österreich die Kleinlichkeit regiert, stehen Kohl und Mitterand Hand in Hand bei den Soldatengräbern.

1989. Der Mauerfall. Das Ende der UdSSR. Ich bin mit meinem Freund Happy auf Kreta und sehe im Fernsehen, wie der rumänische Diktator verhaftet und hingerichtet wird. 

Anfang der 90er. Die österreichische „Wirtschaft" expandiert in die ehemaligen Kronländer und glaubt ernsthaft, dort wirklich willkommen zu sein. Albanien hat schon Privatfernsehen. Wir nicht.

1995. Der Beitritt zur EU. Ein seltenes Gefühl der Weltoffenheit. Busek singt im Zelt der Sozialdemokraten die „Internationale". Der Anfang seines Endes. Schüssel kommt und mit ihm der Hass auf die Roten.  

Clinton übersteht ein Impeachment-Verfahren, weil er wegen Spermaflecken auf dem Kleid einer Praktikantin gelogen hatte und die amerikanische Bigotterie übt fleißig, bis sie endlich einen rassistischen, chauvinistischen Rüpel ins Amt bringt. Davor: Der erste afroamerikanische Präsident. Zwei mal gewählt. Reden zum Niederknien. Taten zum drauf Warten. 

So viel passiert in so vielen Jahren. So viel Liebe, Lust, Schmerz, Verzweiflung. Von Vietnam, Afghanistan, dem Nahen Osten, Afrika, von all dem kann man fast nicht mehr schreiben, weil es einem die Rede verschlägt vor so viel Barbarei und Sünde gegen die Menschlichkeit. 

Das alles ist die Tapete, vor der sich unser Leben abspielt. Manchmal lassen wir sie in unser Wohnzimmer herein, meistens betrachten wir sie wie ein Bühnenbild, von dem wir uns nach Ende der Vorstellung wieder verabschieden. Nur: Die Vorstellung hört nicht auf. Es ist wie bei einem Motor, der weiterläuft, obwohl wir den Zündschlüssel abgezogen haben. 

Ich wünsche mir so sehr Menschen an der Macht. Menschen, die sich an etwas erinnern können. Oder wenigstens so etwas wie ein kollektives Gedächtnis wahrnehmen. Menschen, die Scham empfinden können. Und dann gerne auch Stolz. Menschen, die ein Herz haben, in dem das Mensch-Sein wohnt. Und keinen verhärteten Klumpen, der von fremden Steinmetzen mit grausamen Gravuren geprägt wird. Menschen mit einer Geschichte. Nicht mit Message-Control. Menschen mit einem ehrlichen Glauben anstatt antrainierten Emotionen oder anerzogenen Ressentiments.

Menschen.