In den letzten Tagen habe ich viel (dazu) gelernt. Auch wenn mir der Begriff post-faktisch schon recht lange vertraut ist, war ich doch auf der persönlichen Ebene kaum mit seiner realen Verkörperung konfrontiert.
Das hat sich nun geändert.
Mir wurden ganz direkt ganz eindrucksvolle Beispiele für die völlig schmerz- und wissensbefreite Ignoranz von Fakten oder Zusammenhängen beinahe aufgedrängt.
Der Bogen spannt sich recht bunt über folgende Themen (aktuelle Auswahl):
- Vollkommene Unkenntnis der jüngeren Geschichte und jüngster Fakten zu politischen Kräfteverhältnissen. Aus der Sicht der heutigen Regierung besonders angenehm die Meinung, die Vorgänger-Bundesregierung hätte aus einer rot/grün-Koalition bestanden.
Das ist natürlich höchst erfreulich für die aktuell Regierenden, war doch aus der Sicht so mancher wissens- und gedächtnisloser Betrachter keiner der derzeitigen Akteure für irgendwas vorher verantwortlich. Genial - wenn man am passenden Ufer des Flusses steht.
Sehr beliebt auch Grundrechnungsarten fernab der Arithmetik unter besonderer Berücksichtigung des Prozentrechnens.
Erst jetzt wird mir wirklich bewusst, warum Hofer-Wähler immer noch an Wahlbetrug glauben, weil geänderte Prozentsätze in einer geänderten Grundgesamtheit einfach wirklich zu viel verlangt sind.
Was ich noch lernen durfte:
Ein - durchaus als unsympathisch rezipiertes - Insistieren auf Zahlen und Daten löst sehr heftige Gegenreaktionen aus, die flugs in persönliche Beleidigungen und Untergriffe münden. Standard-Grundrauschen dabei: Gutmensch, Moralist, Willkommensklatscher. Wenn sich das einschlägige Vokabular linear weiterentwickelt, dürfen wir uns schon auf die nächste Eskalationsstufe des Gutmenschen einstellen: Ich vermute, diese Stufe wird dann "Europäer" heißen.
All das ist natürlich schon eine gewisse Herausforderung für einen europäischen willkommensklatschenden moralinsauren Gutmenschen wie mich. Meine Schlussfolgerung:
Ist die Ansteckung mit dem postfaktischen Virus einmal erfolgt, besteht wenig Chance auf nachhaltige Heilung. Postfaktisches Herpes sozusagen. Einmal Herpes - immer Herpes. Die Schübe des Ausbrechens sind direkt korreliert entweder als wutschäumende Reaktion auf das gesellschaftliche Aufbäumen gegen die grassierende Niedertracht. Oder mit einer neuen Unterkante eben dieser Niedertracht.
So bleibt einem EWMG (Abkürzung für obiges Gutmenschen-Syndrom) wie mir nur noch, sich auf die Prävention zu fokussieren und so nachhaltig und -drücklich wie möglich die Ansteckung bei denen zu verhindern, wo noch ein Rest von Chance auf Immunisierung besteht. Impfstoffe können sein: Sinn, Wert, Gewissen, guter Schlaf, Freude am Mitmenschen, Konfliktfähigkeit und Annahme des Anders-Seins.