Vor 41 Jahren bin ich von Linz – der Stadt, in der ich geboren wurde und aufgewachsen bin – nach Wien übersiedelt. Zum Studieren. Politikwissenschaft und Publizistik. 1977 konnte man Politologie im Hauptfach nur in Wien und in Salzburg studieren. Da konnte es nur Wien sein. Wien war und ist nun einmal die einzige Metropole, die wir in Österreich haben. Alle anderen Landeshauptstädte waren verglichen mit Linz etwa gleich groß oder kleiner und dadurch keine echte Alternative. Ja, ich weiß, Linz war – damals! – die Inkarnation der Provinzstadt. St. Pölten war zu dieser Zeit ja noch nicht Landeshauptstadt…
In Wien hatte ich mit dem Glück des Dummen eine kleine Wohnung gefunden, die im sogenannten Servitenviertel lag. Nur 12 Minuten zu Fuß von der Uni entfernt! Immerhin war ich geschickt genug gewesen, im Sommer 77 einen Tag lang in Wien Wohnungen anzuschauen, die ich nur nach Preis und Größe sortierend im „Kurier" gefunden hatte. (Für alle ab Mitte der 80er Geborenen: 1977 gab es noch kein Internet. Man checkte die Inserate in gedruckten Medien und musste anrufen, um einen Termin zu bekommen.) Als ich für diesen 1 Tag in Wien genug Termine beisammen hatte, reiste ich verwegen mit meinem Auto in die Hauptstadt, fand einen Dauerparkplatz und bestieg ein Taxi – einen Peugeot 504. Mit dem Fahrer hatte ich eine Tagespauschale vereinbart. Er würde mich kreuz und quer durch Wien chauffieren, mir die Bezirke erklären, die Wohnviertel bewerten und vor allem die Erreichbarkeit der Uni prüfen. Das Geld war es – wie ich es meine gesamte Studienzeit enorm zu schätzen wusste – unglaublich wert!
Also hatte ich diese kleine Wohnung gefunden. In einem typischen Altbau. Meine Wohnung war eine von zweien, die alle sanitären Räume innen hatten. Eine Küche, ein Kabinett, ein Wohnzimmer und Bad mit Klo. Die anderen Wohnungen waren zumeist ohne Bad und jedenfalls mit einem „indischen Klo" ausgestattet (jenseits des Ganges). Im Flur draußen waren ein bis zwei Klokabinen, die sich die Mieter einträchtig teilten. Und die Bassenna funktionierte noch – musste sie auch, denn sie war die Wasserquelle für alle Wohnungen ohne Innenwasser und nicht wie heute ein pittoresker Aufbewahrungsort für Deko aller Art.
Einen Stock unter mir wohnte eine ziemlich hübsche junge Dame, die mit sehr einladenden Körpermaßen gesegnet war. Diese Vorzüge pries sie in Inseraten an – aufgeheizt durch den Teaser: „Mache alles, öffne nackt!“ So mancher Interessent hatte sich im Feuereifer verstiegen, war einen Stock zu hoch gekeucht und recht enttäuscht, als ich öffnete. Angezogen und zu keiner Verrichtung bereit.
Im ersten Stock wohnte das Haus-Faktotum: Frau Sproger. Mitte 70, gnadenlose Dauerwelle mit zarter lila Tönung und recht zuverlässig sitzendem Gebiss. Sie hatte mich von Anfang an ins Herz geschlossen. Noch bevor ich einzog, hatte sie für die Einleitung eines Telefons gesorgt: Der Bua muss doch seine Eltern anrufen können in der Provinz. Das Telefon war damals keine Selbstverständlichkeit. In Wien gab es ganze, halbe und viertel Telefone. Das ganze hatte man für sich allein. Das halbe hatte 1 Leitung, die man mit einem unbekannten Miteigentümer teilte. Das viertel Telefon musste mit 3 anderen Telefonierern geshared werden. (Sharing war als Begriff natürlich vollkommen unbekannt)
Wollte man telefonieren, drückte man einen Knopf am Telefongehäuse, man hörte ein mechanisches Knacken und hatte sich gegen die anderen drei durchgedrückt. Oder auch nicht. Kein Knacken, keine Freileitung, nix. Dann war Warten angesagt. Und Hoffen, dass der Redefluss der anderen versiegen möge.
Frau Sproger hatte mir nun ein Viertel-Telefon verschafft – ein kleines Wunder, wie ich von nativen Wienern lernen durfte – und ich war mit der Welt verbunden. Frau Sproger braute in ihrer fensterlosen Küche einen ziemlich schlimmen Malz-Kaffee, dem man großräumig ausweichen musste, wollte man nicht tagelanges Magendrücken riskieren.
Ich hatte ihr Herz endgültig im Sturm erobert, als ich eine Angebetete tatsächlich drei Stockwerke auf den Armen bis in meine Lasterhöhle trug und Frau Sproger kopfschüttelnd, aber sichtlich wohlig erschauernd zufällig ihre Wohnung verließ, während ich – Easyness vortäuschend – mit meiner Süßen vorbeiwankte.
Ich liebte meine Wohnung! Voller Dankbarkeit meinem Vater gegenüber, der sie bezahlte, obwohl er sie sich – wie ich erst viele Jahre später begreifen würde – nicht leisten konnte. Ich war privilegiert gegenüber tausenden anderen Studenten, die in Mehrbettzimmern in Studentenheimen starteten oder in ziemlich abgefuckten Zimmern in noch ziemlicher abgefuckteren WGs. Meine Omi hatte mich großzügig ausgestattet. Eine Sitzgarnitur, Bettzeug, Küchengeräte, Geschirr und sonst noch allerlei Hausrat – all das waren wir gemeinsam Einkaufen gewesen und ich hatte sie schwer beeindruckt mit meinen sehr konkreten Wünschen und Kenntnissen. Jahrelange Handreichungen in der mütterlichen Küche und die Fron in der Kaserne hatten sich gelohnt.
So konnte ich zum Start des Studiums ein recht gemütliches Zuhause bewohnen. Auch wenn ich durch die Wahl meiner Studienrichtungen eine KollegInnenschar vorfand, die klug und leutselig war, legte sich in den ersten paar Wochen doch eine bleierne Einsamkeit über mich. (Nur nebenbei: Das Binnen-i gab’s damals natürlich noch nicht…).
Die Abende und die Wochenenden waren tatsächlich echte Herausforderungen. Die Wochenenden ganz besonders. Ich hatte mir eisern vorgenommen, nicht wie die meisten meiner in Wien studierenden Linzer Freunde übers Wochenende nach Linz zu fahren. Ich wollte unbedingt ein neues Biotop in Wien aufbauen und das geht halt nicht, wenn man nicht Wurzeln schlägt. Mit der von Omi gespendeten Waschmaschine war ich auch von Mutters Wasch- und Bügel-Monopol abgenabelt.
So beschloss ich, mich in Wien planquadratmäßig umzuschauen.
Der 9. Bezirk ist zum Ankommen in Wien wie ein Geschenk auf einem Silbertablett. Viele alte und schöne Häuser, die Porzellangasse eine einzige Pracht. Eine Menge Beisln, wie zum Beispiel das Servitenstüberl oder der Landsknecht. Dort residierte Helmut Qualtinger mit seiner Frau Vera Borek. Und er trank wirklich den Slivowitz aus dem Achtel-Glas – es war wie im Kino. Bei der Liechtensteinstraße die Strudelhofstiege – plötzlich in eine Doderer-Filmkulisse eintreten. Der Donaukanal – damals noch ohne Summerstage und Basketballkäfige. Telefonzellen an vielen Ecken. Und Greißler. Richtige Greißler. Gleich unten schräg gegenüber von meiner Haustür war einer. Ein Exil-Ungar, 1956 geflüchtet, das ganze Jahr mit der Baskenmütze auf dem Kopf. Oder „mein" Greißler, fünf Querstraßen Richtung Franz Josefs Bahnhof, dessen zeitlos hässliche GlasBetonArchitektur damals grade noch nicht stand. Mein Greißler hatte mir samstags immer eine Wochenend-Grundausstattung zurückgelegt, wenn ich schwer gezeichnet vom Freitag Abend kurz vor Torschluss über die Schwelle kroch.
Dann war da in der Alserbachstraße eine Spedition. Über dem mächtigen Torbogen ein Schild. „Umzüge innerhalb der Hauptstadt und in die Provinz.“ Gut zu wissen.
So ungefähr Anfang bis Mitte November 77 hatten sich Löcher in meinem Einsamkeits-Bleimantel gebildet. Nach ein paar misslungenen Anbandelungs-Versuchen im Hörsaal mit neben mir sitzenden einheimischen Kolleginnen – „Ah, Du bist aus Linz! Wohnst Du da am Bauernhof?“ – hatte sich um mich ein sehr liebenswürdiger Kreis von besonderen Menschen gebildet. Die Einstiegsdroge war oft meine Vorlesungs-Mitschrift, die meist recht komplett und sinnerfassend war. Dieser Magnet hat ein paar Leute angelockt und sie alle waren es wert. Ein skurril-absurder Villacher mit Spitznamen Happy war der Spitzenreiter. Als Happy und Sunny waren wir unzertrennlich. Meine wunderbare Sylvia/Laura, der ich in meinem Blog schon ein Denkmal errichtet habe. Später sehr bekannte ORF JournalistInnen, die ich hier nicht mit unserer gemeinsamen Vergangenheit belasten will.
Verena, mit der ich die Studentenvertretung auf der Politikwissenschaft betrieb und die mir bis heute eine heiter-kritische Begleiterin geblieben ist. Zwei, drei Oberösterreicher, die so wie ich von den Mostschädeln los wollten. Mein herrlicher Freund Herbert, seit Kindertagen mit mir verbunden und bis heute unverzichtbar. Und dann eine ganze Clique Wiener StudentInnen. Durch sie, die mir wirklich sehr unbekümmert begegneten, erfuhr ich, was es heißt, wenn man nicht in die passende Wiener Schule gegangen ist, wenn die prominenten Eltern sich nicht kannten und die große Wohnung im Palais nicht von den Großeltern ererbt worden war. Der Eintritt in diese Welt des klassischen Großbürgertums wurde mir zwar sehr leicht gemacht und doch fehlten mir die unsichtbaren Erkennungszeichen des selbstverständlichen Dazugehörens. Das dauert viele Jahre und manches bleibt immer fremd.
Durch diesen doch recht ansehnlichen Bekanntenkreis kam ich viel herum in Wien. Der Stadtplan war mein ständiger Begleiter. Wenn ich dann zu den abendlichen Gelagen meist zu Fuß unterwegs war, umfing mich diese eigenartig morbide Kühle, die von den alten Häusern ausgeatmet wurde. So viele Jahrzehnte, so viele Geschichten, immer mit einer klebrig-feuchten Aura des halb Vergessenen und nie Verarbeiteten.
Das schmeckt, riecht, mutet ganz speziell an. Irgendwie vertraut und doch lange Zeit hindurch beängstigend.
Heute ist all das zu meinem selbstverständlichen Ambiente geworden. Und doch hab ich sofort die alten Bilder und Gerüche in mir gespürt. Heute, als mich das Taxi abends zum Flughafen brachte. Und der Fahrer Schleichwege fuhr, weil die Rush-Hour so heftig ausfiel.