1981 bis 83. Die schweren Jahre.

Weil ich seit Tagen in den Reminiszenzen schwelge, mach ich einfach weiter. Mein wunderbarer Freund Kai Flemming hat mich ohnehin schon vor Jahren zum Betreiber des Museums der Erinnerungen gemacht – also zieh ich die Nummer jetzt durch.


Chronologisch nicht ganz nahtlos an die letzten beiden Blogs anschließend, denke ich heute ganz besonders an die Jahre 1981 bis 1983. Vielleicht auch, weil ich am 29. November 1983 zum Dr.phil promovierte und sich dieses Datum nun bald zum 35.mal jährt. Abgesehen vom per se unglaublich positiven Erlebnis dieses Meilensteins steht für immer ein Bild vor meinen Augen, das ich mit diesem Tag untrennbar verbinde. Bild sogar ganz wörtlich genommen. Es gibt ein Foto, das direkt nach der Promotion noch im Festsaal der Uni aufgenommen wurde. Darauf sieht man mich mit Doktorhut und Dokumentenrolle in die Kamera grinsen. Und neben mir steht mein bester Freund, der „Große Paul" (Erich). Von ihm und seiner Frau Heidi hab ich den Doktorhut geschenkt bekommen. Und der Große Paul lacht von einem Ohr zum anderen und freut sich wie ein Hutschpferd. Seit diesem Moment weiß ich, was Freundschaft ausmacht: Wenn sich Dein Freund über Deinen Erfolg mehr freut, als Du selbst. Diese Erkenntnis habe ich an meine Kinder weitergegeben und ganz besonders an meinen Sohn Paul, dessen Taufpate der Große Paul ist (er füllt diese Rolle vom ersten Tag an beispiellos aus!). 

Bis zum 29.11.83 liegt eine „long and winding road".


Mit Ende des Sommersemesters 1980 hatte ich alle Prüfungen so weit beisammen, dass ich mein heißgeliebtes Dissertationsthema einreichen konnte. „Demokratisierung der österreichischen Außenpolitik". Das war damals – und ist es wahrscheinlich noch heute – ein spannendes Thema. Kreisky hatte in seinem historisch seltenen Talent eine internationale Bedeutung erlangt und dominierte die österreichische Außenpolitik derart, dass sogar der unter seiner Gnade amtierende Außenminister in einem Gespräch mit mir unachtsam zugab, Kreisky würde 3/4 der Außenpolitik selbst betreiben. Darüber wollte ich schreiben. Und auch darüber, wie man diese Zuspitzung auf eine Person demokratischer, breiter aufheben könnte. (Diese Ambition – nämlich auch gleich eine Alternative zum analytischen Befund entwickeln zu wollen – war der Keim des Scheiterns.) Ich machte mich mit Feuereifer ans Werk. 


Eines Tages wachte ich auf und spürte einen sehr unangenehmen ziehenden Schmerz in der rechten Lende. Etwa so wie Zahnweh. Der Schmerz ging nicht weg und koppelte sich mit einer bleiernen Müdigkeit. Eine Serie von durchaus ziemlich unangenehmen Untersuchungen ergab: Ich hatte ein Nierenproblem. Seit meiner Geburt hatte sich – all die Jahre unbemerkt – ein Blutgefäß außerplanmäßig auf das obere Kelchsystem der rechten Niere gelegt, einen dauerhaften Stau verursacht und das obere Drittel zum Absterben gebracht. Das tat nun weh und wirkte wie eine schleifende Handbremse. Der Facharzt wollte operieren, ich wollte erst die Diss fertig schreiben. Ich erhielt eine Frist von einem Jahr. Nach einem halben Jahr, das ich mehr liegend als stehend verbracht hatte, beschloss ich, den Ablauf zu ändern. Für Anfang März 1981 wurde ein OP-Termin fixiert. In einem damals relativ neuartigen Verfahren sollte mir nur das obere kaputte Drittel der Niere entfernt werden, die gesunden zwei Drittel könnten erhalten werden. 

Die Zeit bis zur OP verlief durchwachsen, weil meine arme übernervöse Mutter eine Verschwörungstheorie entwickelte: In Wahrheit hätte ich Krebs, alle außer ihr wüssten das und würden ihr die Wahrheit vorenthalten. Hauptverdächtiger: Mein Cousin Gerd, der Arzt ist und sich das alles heimtückisch ausgedacht hätte. War natürlich absoluter Humbug, aber sehr lästig im innerfamiliären Funkverkehr. 


Schließlich war der D-Day erreicht: 6.3.1981. Ich sehe mich noch in tiefer Ruhe auf der Bettkante in meinem Krankenzimmer sitzen und das Gelingen der OP in die Hände Gottes und des Professors legen. Ich war da und voller Zuversicht. Mehr konnte ich nicht beitragen. Vier Stunden später wachte ich auf und mein ganzer Körper war ein einziger Schmerz. Wie mir erzählt wurde, war ich so bleich, dass ich mich farblich kaum vom Leintuch abhob. Meine Mutter, die während der OP im Viertelstundentakt die Krankenschwestern genervt hatte, war nun im Vollbesitz ihrer Ruhe. Sie kühlte mir die Stirn, stützte meinen Nacken, wenn ich kotzen musste und hielt die Stellung – was meinem Vater und meinem Bruder nur mit Einschränkungen gelang.

Immerhin gab es am selben Tag noch was zu Lachen (Lachen, Husten, Niesen war jedes Mal mit Schmerz gekoppelt): Ich sollte pinkeln. War dem Professor einfach wichtig. Ging nur nicht so leicht auf Bestellung. Und schon gar nicht im Liegen. Also marschierten zwei stämmige weibliche Kranken-Dragoner auf, stellten mich grade, balancierten die Flasche auf der eisernen Bettkante, drehten den Wasserhahn auf und unterstützten das Plätscher-Geräusch mit eigenem „Sch, Sch". Irgendwann löste sich der innere Staudamm und ich produzierte die gewünschte Menge, die mich von weiteren Nachstellungen des Professors befreite. 

Nach 10 Tagen sehr guter Behandlung und entsprechender Fortschritte durfte ich nach Hause. Nach Hause. Wo war das eigentlich? Die Adresse, wo ich aufgewachsen war, stellte sich nicht als Hort der Erholung heraus. Da war zuviel seelischer Schmerz zwischen meinen Eltern und zu wenig Geborgenheit. Also eilte ich so früh ich konnte zurück nach Wien. Ich war genau 24 Stunden da, als mich meine Mutter anrief. Meinen Vater hatte der Schlag getroffen. 

Sofort ins Auto, nach Linz rasen, ins AKH donnern, Terror machen, weil man mir nicht gleich sagen konnte, wo mein Vater sich aufhielt, von der mir bestens bekannten Urologie aus recherchieren und schließlich den Vater finden. (Handys damals noch nicht erfunden…).

Vati lag halbseitig gelähmt in seinem Bett und verhielt sich, als würde ihn das alles nichts angehen und jemand anderer wäre in seinen Körper geschlüpft. Neugierig öffnete ich den Kleiderschrank und sah eine braune Hose und ein kariertes Sakko. Genau das hatte ich in der Nacht vorher geträumt. Ich hatte Vati in einem Rollstuhl gesehen, exakt so gekleidet, die rechte Hand runterbaumeln und ich sah, wie er unterirdisch in einen Beton-Neubau gebracht wurde. Genau so war es geschehen …

Vati erlitt noch zwei weitere Schlaganfälle. Im Mai wurde er am Gehirn operiert und die kaputte Blutzufuhr mikrochirurgisch repariert. Im April hatte mein Bruder eine schon lange geplante Mandeloperation. Es war ein Scheiß-Jahr. Und es war noch nicht zu Ende. 


Wir mussten feststellen, dass die Familienfinanzen in schwere Not geraten waren. Vati hatte uns ein sehr angenehmes Leben finanziert, ohne ausreichende Mittel dafür zu haben. In ein paar Wochen hatte ich sein und mein Auto verkauft, Mutti den Großteil ihres Schmucks. Ich hatte mit seinen Arbeitgebern einen silbernen Handshake ausgehandelt und mit den Ämtern seine Frühpensionierung. Weihnachten 1981 waren alle finanziellen Klippen umschifft, Vati in Pension, die Gans im Rohr und ich bis zur Ohnmacht müde. Diese Müdigkeit sollte mich das ganze Jahr 1982 nicht loslassen. Ich weiß bis heute nicht, was ich in diesem Jahr konkret getan habe. 

Mein treuer Begleiter – der Große Paul – kam jeden Tag zum Frühstück zu mir. Dabei spielte sich folgendes Ritual ab: 

8.00, Läuten an der Tür. Paul steht da. Ich sage (jeden Tag): He, Überraschung! Magst einen Kaffee? Antwort: Wenn zufällig einer fertig ist! --- Es war. Immer. Ohne diesen Freund wäre ich wahrscheinlich untergegangen. 

Bei einem dieser Frühstücke fragt mich Paul: Wie viele Seiten hat so eine Diss eigentlich? Antwort: Ca. 300. Replik: Na dann schreibst jeden Tag 1 Seite, bist in einem Jahr fertig. // Ach Paul, ich liebe Dich so sehr! 


Weihnachten 1982. Linz. Die Gans ist verdaut. Eine seltsame Unruhe macht sich breit. Der Gedanke: Wenn ich 1983 nicht endlich die Diss fertig kriege, höre ich mit dem Studium auf. Entweder – Oder. Hopp oder Tropp. Ich fahre im Zug nach Wien zurück. Der Plan reift. Das Thema und den Betreuer wechseln. Jeden Tag dran arbeiten. Jeden Tag.

Back in Vienna kaufe ich einen großen Bogen Packpapier. Auf dem markiere ich für jeden Tag vom 2. bis zum 31. Jänner das zu erledigende Tages-Pensum. Den Papierbogen hänge ich an die Wand bei meinem Bett. Jeden Morgen beim Aufwachen: Checken, was heute zu tun ist. Arbeit von 8 bis 12, von 14 bis 18 und von 20 bis 22 Uhr. Samstag, Sonntag ist frei. Der Motor springt an. Ich komme voran. Der empirische Teil ist im Frühjahr fertig, der theoretische Ende September. 9 Monate. Die Diss zum Thema: „Neo-Korporatismus statt Pluralismus im politischen System Österreichs – am Beispiel der Paritätischen Kommission für Preis- und Lohnfragen" wurde auf der Olivetti Reiseschreibmaschine, die mir mein Opi vererbt hatte, getippt. Um auch nächtens tippen zu können, hatte ich auf die Unterseite zur Schalldämmung eine dicke Schicht Schaumgummi geklebt. 

Im Sommer 1983 heirateten mein Freunde Paul und Heidi. Ich hatte sie verkuppelt. Es war mit Ausnahme meiner eigenen Hochzeit im Sommer 2014 die schönste meines Lebens. Ich war der einzige Trauzeuge. Die zweite Zeugin war eine Sekretärin am Standesamt, die wir spontan requirierten. Das Brautpaar, die einjährige Tochter Vivi und ich. Das war die ganze Hochzeitsgesellschaft. Nach der Trauung ging’s zum Fotografen, dann im offenen 2CV zu einem Badesee. Wir standen bis zum Bauch im Wasser, ich hatte Vivi am Arm sitzen, wir ließen den Sektkorken übers Wasser schießen und dann speisten wir in einem 2-Hauben- Lokal.


Im November legte ich die Rigorosen ab und dann war die Promotion. 

Es war ein gutes Jahr geworden.