Vor zum Glück sehr vielen Jahren war ich so unglücklich in meinem Leben, dass ich mich am liebsten von jenem Berg an Verwüstungen gestürzt hätte, den ich glaubte, aufgetürmt zu haben.
Ich empfand mich selbst als meinen schlimmsten Gegner und den wollte ich durch Ermordung aus der Welt schaffen.
Seit damals kann ich die bildhaften Umschreibungen von Depression als "black dog" (Churchill) oder "schwarzes Loch" als sehr zutreffend nachvollziehen.
Nachdem ich wieder einmal ganz "close to the edge" gewesen war, ist mir der Schreck über diese äußerst knappe Wende so in die Glieder gefahren, dass ich mich endlich aufraffte, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Eine Empfehlung führte mich zu Dr. Werner Gradner, Facharzt für Psychiatrie. Dr. Gradner ist vor drei Jahren ganz unerwartet gestorben. Er hat mir geholfen, mein Leben wieder zu gewinnen und gern in meiner eigenen Haut zu sein.
Ich war viereinhalb Jahre lang bei ihm.
Drei mal die Woche jeweils eine Stunde auf der Couch. Zu normalen Bürozeiten. Das alles in einer Zeit, in der ich Geschäftsführer in der Werbung war.
Wie das mit dem Zeitmanagement geklappt hat, weiß ich heute nicht mehr. Ich weiß nur, dass der Leitgedanke "Der Leidensdruck löst den Handlungsdruck aus" in meinem Fall absolut stimmte. Ich habe in meinem Leben durchaus einiges Geld in den Sand gesetzt. Aber es tut mir um keinen Cent leid, den die Analyse gekostet hat. Im Gegenteil.
Gradner war streng, hochintelligent, humorvoll und extrem kompetent.
Es war eine klassische Analyse. Ich liegend auf der Couch, er hinter mir sitzend, mit Notizblock und Schreibgerät.
Erster Termin. Ich lege mich hin, rede wie ein Wasserfall und nach 50 Minuten sagt Gradner hinter mir, dass nun 50 Minuten um wären. Das war alles, was er sagte.
Nächster Termin: Das selbe in grün.
Dritter Termin: Ich lege mich hin und lege los. "Was soll das eigentlich hier? Ich rede mir die Seele aus dem Leib, höre 50 Minuten lang nichts von Ihnen und dann schicken Sie mich wieder weg!" Gradner von hinten: "Na endlich! Ich frage mich schon zwei Termine lang, wann Sie endlich sagen, was Sie von mir wollen!" Nie in meinem bisherigen Leben hat mir jemand so nachdrücklich vorgeführt, wie ignorant ich mit meinen eigenen Wünschen und Bedürfnissen umgegangen bin und in was für eine Opfer-Rolle ich mich eingekringelt hatte. Das war der Beginn meines nie enttäuschten Vertrauens in Gradner.
Wir waren auf einer sehr langen Reise. Termin für Termin haben wir den bis dahin festgefügten Bauplan meines Innenlebens zerlegt, gedreht und gewendet und die Bausteine neu zusammengefügt. So, dass es mein Bauplan werden konnte. Zu dem ich gerne stehen konnte und wollte. Dabei gab es Phasen des unerträglich schmerzhaften Schweigens, des Lachens, der erlösenden Erkenntnis und der dramatischen Einsicht, die manchmal so erschreckend war, dass ich nicht einmal mehr weinen konnte vor lauter Fassungslosigkeit.
Wir hatten einen Deal. Ich musste selbst in mein eigenes Bergwerk hinabsteigen und schürfen. Nur, wenn ich nicht nur symbolisch auf allen Vieren zu ihm gerobbt kam, durfte ich das Zauberwort "emergency" aussprechen und Gradner half mir aktiv aus der Klemme. So gehörten die allermeisten Nuggets, die ich fand, mir und ich konnte sie auch als mein Eigentum selbstbestimmt einsetzen. In den Jahren auf der Couch habe ich gelernt zu verstehen, wie meine Eltern waren und bis heute nütze ich diese Werkzeuge, um ihnen immer wieder mit Liebe und Nachsicht und Erkenntnis (virtuell) zu begegnen. Mir wurde bewusst, wie konfliktscheu ich gewesen war und wieviel Schaden das bei mir und anderen angerichtet hatte - und natürlich, wie wichtig es geworden war, ein neues Muster einzurichten.
Ich darf seitdem auf mein Leben schauen, mir auch hintennach noch eine gute Dosis Zorn genehmigen, das Wort und den Modus "Schuld" lustvoll beerdigen und immer wieder streng mit mir sein, wenn der alte Schlendrian um die Ecke schaut.
Mit unzweifelhafter Wahrscheinlichkeit haben die Jahre auf Gradners Couch die Basis für mein Leben als Coach gelegt und solange er lebte, habe ich Klienten zu ihm geschickt, bei denen mein eigener Radius ausgereizt war. Erst vor kurzem habe ich einen dieser Klienten zufällig auf der Straße getroffen und wir haben uns beide so sehr gefreut, dass er sich durch die Analyse aus einer schon sehr bedrohlichen Umklammerung in seinem Privatleben befreien konnte.
Wenn's nach mir ginge, sollte jede/r ein Anrecht auf ein Jahr Gratis-Psychotherapie haben. Unsere kleine Welt sähe sicher anders aus ...
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