Da ist es wieder.
Der Druck in der Magengegend. Das Pochen im Hals. Die sich anschleichende Übelkeit.
Die Angst. Noch eineinhalb Stunden. Dann wird es an der Tür läuten.
Und am Läuten wird er erkennen, wie der Rest des Abends verlaufen wird.
Dann kommt der Vater nach Hause. Und die alles entscheidende Frage wird sein:
Wie viel hat er vorher getrunken? An der Art, wie der Vater die Treppen in den ersten Stock bewältigt, wird sich die letzte Gewissheit einstellen. Und allerspätestens beim Mantel Aufhängen ist das Urteil gesprochen. „Na, Petzi, wie war der Tag?“ wird die hilflose Mutter fragen, die genau wie er perfekt ist im Ablesen der seismografischen Anzeichen. Sie fragt es trotzdem, obwohl sie die Antwort schon kennt: „Viel Arbeit, viel Zirkus.“
Dann der ritualisierte Gang des Vaters zur Kommode, Brille ablegen, Uhr ablegen, schnell die Post anschauen. Die Kontoauszüge, die die Mutter nicht zu öffnen wagt.
Ins Bad, Hände waschen, die rote Stirn mit Franzbranntwein einreiben.
Dann – so geht der schlechte Tag in den schlechten Abend über – den Sohn ins nahegelegene Wirtshaus schicken. Alibihalber eine Familienpackung Eis holen. In Wirklichkeit eine Flasche Doornkaat holen. Der Wirt packt sie immer in weißes Packpapier ein, damit der 12-Jährige mit der Schnapsflasche auf der Straße kein Aufsehen erregt.
Der 12-Jährige. Er hat schon seine Abwehrmechanismen entwickelt. Die helfen manchmal, oft aber helfen sie auch nicht. Speziell, wenn der Vater anfängt, die endlosen Diskussionen anzuzetteln. Warum in der Schule was nicht läuft. Die ewigen Tiraden über die schwere Jugend des Vaters, obwohl der Sohn weiß, dass die Geschichten nicht stimmen.
Die Rechthaberei. Neulich, da hat der Sohn ganz stolz aus dem Werkunterricht einen Gewehrständer für das Luftdruckgewehr nach Hause gebracht. Der Vater will ihm den Gewehrständer montieren. Er wackelt ein bisschen beim Stehen. Um die Bohrlöcher zu markieren, zieht er mit dem Kugelschreiber und dem Lineal eine dicke Linie quer über die ganze sorgfältig lackierte Breite des Holzes. Dann wird der Ständer montiert. Jahrelang wird der Sohn die fette Kugelschreiberlinie sehen und sich an diesen „verwackelten“ Abend erinnern. Und die Mutter blicket stumm…
Kein Einschreiten. Kein Ordnungsruf. Und – an besonders schlechten Abenden – wo sie es dem Vater besonders recht machen möchte, stimmt sie auch noch in seine Wiederholungsschleifen ein und markiert ihre eigene verwunschene Kindheit mit den immer gleichen Geschichten.
Es ist niemals körperliche Gewalt im Spiel. Niemals. „Nur“ psychische Folter.
Irgendwann bittet der Sohn, doch ins Internat zu dürfen. Er würde das nicht mehr aushalten.
Selbst da passiert nichts. Keine Gewalt. Dafür das Schweigen. Wochenlanges Schweigen.
Das „Guten Morgen“ des Sohnes beim Frühstück wird nicht erwidert. Das „Gute Nacht“ auch nicht. Bis sich der Sohn an den Firmpaten wendet. Er ist der beste Freund des Vaters.
Und beim samstäglichen Kaffeehausbesuch scheißt er den Vater zusammen.
Was der denn glaubt, wochenlang nichts mit dem Sohn zu reden …
Dann kommt der nächste Abend der Büroheimkehr. Das zögerliche, abgesetzte Läuten. Das Keuchen beim Stiegensteigen. Die Diskussionen. Um nichts und wieder nichts.
Der Sohn zieht sich in sein Zimmer zurück. Geht kurz Zähne putzen, Pyjama, Bett. Lesen.
Die große Flucht in die Welt der Abenteuer. Wo die Helden groß und mächtig sind. Gute Taten vollbringen. Die Gerechtigkeit nach langen Kämpfen siegen darf.
Wo die Liebe wohnt, die Romantik, der Kitsch.
Es ist kurz vor Mitternacht. Der Sohn hört die Eltern aus dem Wohnzimmer kommen.
Die Tür zu seinem Zimmer geht auf. Der Vater steht da. Wankend. Roter Kopf.
Er tritt ans Bett heran. „Licht abdrehen! Und – wie liegst Du da?“ Der Sohn hatte das Buch auf die aufgestellten Knie gelegt. Der Vater drückt ihm die Knie runter. „So liegt man.“
Das Schweigen war besser. Im Nachhinein betrachtet.
Und morgen wird der Sohn das Foto des Vaters, das in seinem Zimmer hängt, in den Schrank geben.
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Elisabeth (Dienstag, 02 April 2019 13:58)
Ich bin tief berührt über einen so emotionalen Einblick.
Man trägt soviel ein Leben lang...
Ulli (Dienstag, 02 April 2019 21:54)
Man möchte beim Lesen selbst zur Superheldin werden...
Christian (Mittwoch, 03 April 2019 01:29)
Das tut weh. Sehr weh ...
Elfi (Mittwoch, 03 April 2019 02:10)
Sehr berührend, tiefgreifend. Meine Geschichte ähnelt dieser in gewisser Weise. Man weiss erst viele Jahre später, was psychische Gewalt ist, was es bedeutet, wie sie einen zeichnet. Wie es ist, reden zu lernen, zu sprechen oder sich selbst auszudrücken, das konnte ich erst im Erwachsenenalter. Als ich zu schreiben begann oder meine kleinen oder grösseren Gedichte hinkritzelte, wobei es so mit Leichtigkeit geschah, dass ich das Gefühlte endlich irgendwie zum Ausdruck bringen konnte. Lesen und schreiben war seither diese Zuflucht des innersten Ausdruckes und des Erfassens überhaupt. Selten hat mich jemand oder etwas so berührt, wie deine Zeilen.
Robert Dengscherz (Donnerstag, 04 April 2019 09:52)
Danke für diesen Text!
Wie traurig!
Ich kenne das, abgewandelt natürlich, alles!
Es lässt einen nie mehr ganz los.
Lustig ist, dass ich, unabhängig davon,
es hasse, wenn man auf zu montierenden Teilen
oder an der Wand darunter die Markierungen sieht ;-)