Mitterlehner.

Es wird grade sehr viel über das Buch Reinhold Mitterlehners geschrieben. Ich hab es gelesen. Und die kommenden Zeilen sind keine Rezension, sondern nur eine Reflexion.

Mitterlehner ist nur zwei Jahre älter als ich und in einer Gegend aufgewachsen, in der ich mich als Kind sehr oft aufgehalten habe. Sogar das Gymnasium, in das er ging, verbindet uns, weil es eine sogenannte "Expositur" des 2. Bundesgymnasiums Linz war, in dem ich maturierte.  

Das Buch ist in einer recht authentischen Sprache geschrieben, die unterstützenden Profi-Schreiber haben den Sprachduktus des Autors gut eingefangen. Es hätte auch sehr viel kürzer ausfallen können, aber dann wäre es kein Buch, sondern eine Broschüre geworden. Ziemlich genau bei der Hälfte der Seiten beginnt es Fahrt aufzunehmen. Die ersten 50 Prozent erzählen die Geschichte eines typischen österreichischen Politikers der Baby-Boomer-Generation: Durchschnittlich, aufsteigend, sehr den eigenen Wurzeln verbunden, oft auch noch in alten sprachlichen und denkerischen Mustern verhaftet. Mitterlehner schafft es beispielsweise das ganze Buch hindurch nur mit ganz wenigen Ausnahmen nicht, die Sozialdemokraten als Sozialdemokraten zu bezeichnen. Sie sind für ihn Sozialisten - auch ab dem Zeitpunkt, als sich die SPÖ selbst von dieser Namensgebung gelöst hatte. 

Auch interessant: Mitterlehner fühlt sich dem Unternehmertum verbunden, weil sein Onkel eine Tischlerei hatte. Er selbst hat keinen Tag in seinem politischen Leben als Unternehmer gearbeitet, sondern war angestellt in der Interessensvertretung der Unternehmer.

Alles halb so wild, da muss ein Sozi keine Schnappatmung kriegen, sowas gibt es zu Tausenden auf allen Seiten des politischen Spektrums. 

Das Weltbild und das Menschenbild Mitterlehners ist geprägt von der Zeit, in der er aufgewachsen ist und da spüre ich viel Vertrautes. Die scharfe ideologische Abgrenzung von der anderen Seite und zugleich das ständige Bemühen um Ausgleich und Kompromiss. Der innere Konflikt zwischen der geradlinigen und zeitweise sturen mühlviertlerischen Mentalität und der zutiefst fremden Mechanik des Ränkespiels und der gezinkten Karten. Und die Unfähigkeit, das ständige Lernen (das er glaubwürdig betont) mit der Geschwindigkeit der Veränderung in Einklang zu bringen.

Erschütternd die unverblümte Ehrlichkeit, mit der er die völlige Rat- und Konzeptlosigkeit der Regierungen nach dem Jahrtausendwechsel gegenüber den treibenden Themen Digitalisierung, Automatisierung und vor allem (!) der Migration beschreibt. Und das verzweifelte Bemühen, die gelernten und tradierten Methoden der Behandlung der Themen gegenüber einem Vertreter einer Generation zu praktizieren, dem das alles von Herzen egal ist und dem vorne und hinten das Wissen und das Gewissen fehlen, um abseits der Machtmechanik etwas Menschliches zu empfinden.

Das Scheitern Mitterlehners ist das technische KO eines Gebildeten, der zu dumm war, zu erkennen, dass sich das Spiel und seine Regeln fundamental geändert haben.

Insofern sind meiner Meinung nach alle Kommentare zutiefst im Unrecht, die Mitterlehner "gekränkte Eitelkeit" unterstellen. 

Wer sich ein bisschen in den mühlviertlerischen Hang zur latenten Schwermut (siehe auch Adalbert Stifter) hineindenken kann, weiß, dass es sich nicht um Eitelkeit handeln kann, sondern um die Verzweiflung, das Richtige gewollt zu haben und gegen das Falsche zu verlieren.

Bei allen Unterschieden und in großem Respekt vor seiner Lebensleistung: Da kann ich ihn absolut nachvollziehen. 

 

 

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Kommentare: 4
  • #1

    Christian Bergbauer (Freitag, 19 April 2019 13:52)

    Mitterlehner war WK Funktionär mit damals typ. Karriere, irgendwie bestrebt, dem Ganzen zu dienen. Inh als Linken zu bezeichnet wie dies Josef Pröll tat ist Schwachsinn. Und entlarvend für die derzeitige rechtspopulistische ÖVP, für die Menschenrechte und Demokratie letztlich linke Errungenschaften sind.

  • #2

    Hermann Schindler (Freitag, 19 April 2019 13:54)

    Danke für diese einfühlsame Zusammenschau. Sein Buch zu lesen wollte ich mir sicher nicht antuen. Und da kommen Ihre Worte genau richtig.

  • #3

    Christine Grünwald (Freitag, 19 April 2019 19:34)

    Ich bin nicht befähigt, das Geschriebene zu bewerten. Auch Mitterlehner hat sich mit seinen Aktionen keine Freunde gemacht. Aber ich werde das Buch lesen, und dann werde ich versuchen, das Geschehene und die Inhalte des Buches zu verbinden, nein zu vergleichen.

  • #4

    Thomas Liedl (Samstag, 20 April 2019 16:20)

    Liebster Schwager, danke für die einfühlsame Zusammenfassung seines Buches, welches ich nicht gelesen habe. Ich schließe jedoch aus den vielfältigen, teils gekränkten Reaktionen, dass Mitterlehner wohl einen Nerv der Partei getroffen haben muss. Die wenigsten ÖVP Granden wollen sich den Erfolg Ihrer Partei madig machen lassen - außerdem wird das Machtgefühl dieser Leute überwältigend bzw. Rausch artig sein, dass Mitterlehners Kritik als der neidvolle Ausdruck von Ohnmacht und Scheitern klein geredet werden soll. Die Aufrechteren hingegen, können mit dieser Kritik sehr wohl etwas anfangen, es ist grad so, als dächten sie: endlich traut sich wer den Mund aufmachen! Die Macht ist halt so geil!
    Außerdem, bevor wir's vergessen: der Zweck heiligt die Mittel - auch die ganz grauslichen!