Ein verregneter Nachmittag in Wien. Meine wunderbare Frau (die das schon zu meinem Geburtstag tun wollte) und ich beschließen, die Ausstellung "Das rote Wien. 1919 bis 1934" anzuschauen. Nach zwei berührenden Stunden gehen wir rüber ins Landtmann. In Blicknähe die Löwelstraße 18. Und ich möchte aufstehen, rübergehen, am Tor rütteln und rufen: "Aufwachen. Mitkommen. Anschaun. Weiterdenken!"
Nur ein Beispiel aus der Ausstellung: Otto Glöckel hatte 1915 bahnbrechende Ideen für ein modernes Schulwesen. Bis heute sind seine - damals revolutionär anmutenden, heute auf jeden Fall immer noch progressiven - Modelle nur bruchstückhaft verwirklicht. Die Konservativen in allen politischen Lagern haben sich erfolgreich 100 Jahre lang quergelegt.
Dann mäandern die Gedanken durch den Kopf. Es ist ja mittlerweile unbeliebt, die SPÖ zu kritisieren. Entweder, weil man auf jemanden, der am Boden liegt, nicht hintreten soll. Oder, weil man das zarte Drehmoment einer Wahlbewegung nicht stören soll.
Trotzdem: Ich glaube, es wäre gar nicht so schwer, ein wirkliches Gegenkonzept zum türkis/blaunen Mainstream zu entwickeln. Voraussetzung: Endlich nicht mehr darauf zu spekulieren, der liebe Basti wird uns schon noch als Juniorpartner mitspielen lassen und deshalb sind wir jetzt nicht ganz so schiach zum ihm, wie wir es eigentlich sein sollten. Und: Einfach einmal das glatte Gegenteil dieses Mainstreams auszuprobieren. Denn dieser Mainstream ist gedanklich und ideologisch so alt, dass er sich vor lauter Spinnweben eigentlich gar nicht mehr bewegen dürfte.
Gemmas an (ein paar schnell herausgegriffene Beispiele).
- Die 60 Stunden-Woche. Gegenteil: Die 4-Tage-Woche. Wer sich nur ein bisschen in der Arbeitswelt aufhält, weiß, dass gerade die jüngere Generation extrem großen Wert auf Flexibilität und Lebensqualität in der Organisation der Arbeit legt. Wenn Flexibilisierung, dann aber ganz: 4 Tage auf alle 7 Tage verteilt. Da müssen dann alle über ihre Schatten springen, aber cool wärs!
- Europa. Die SPÖ war der absolute Spätzünder unter den politischen Parteien in Österreich, als es um den Beitritt zur EU ging. Nun dürfen wir uns Kurzschen Schwachsinn über den Bräunungsgrad von Schnitzeln und 1000 Verordnungen anhören - alles frisch aus Visegrad. Ähm, SPÖ: Bitte einfach ein beherztes Bekenntnis zur EU und zur Offenheit und bei der Gelegenheit auch gleich zu einer vernünftigen Migration ablegen. Warat super.
- Bildung. Bitte endlich raus aus dem "Entweder/Oder" und hin zum "Sowohl/Als auch". Lassen wir doch der Jeunesse Doree ihre Gymnasien und Privatschulen. Ist eh OK. Aber stellen wir doch auch ein wirklich flächendeckendes System der Gesamtschule/Ganztagesschule auf die Beine, damit wir nicht ständig beim PISA-Test durchfallen und arbeitende Eltern eine gute Versorgung für ihre Kinder haben.
- Fairness für Frauen. Während die Türkisen die Töchter ihrer Millionenspender in Aufsichtsräten versorgen, sorgt die SPÖ per Gesetz endlich dafür, dass die gleiche Arbeit von Männern und Frauen auch gleich bezahlt wird. Zeit wird's!
- Umwelt. Die türkise Umweltministerin handelt dem Staat Österreich Straf-Milliardenzahlungen ein, weil die Partei der Bauern und der Industriellen nicht und nicht imstande ist, ein zeitgemäßes Umweltkonzept auf die Beine zu stellen. Hallo! Einfach das Gegenteil machen und gut is!
- Die Zukunft der Arbeit. Während Türkis und Blaun in den social media asoziale Kommunikation betreiben, fehlt dem Land hinten und vorne eine ehrliche und robuste Konzeption zum Umgang mit der Digitalisierung/Automatisierung. Wenn wir nicht hinter das Niveau der CDU zurückfallen wollen, dann muss endlich eine ungeschminkte Ansage zu den Auswirkungen der digitalen Revolution auf die Arbeitswelt her. Je früher, desto besser!
Beispiele unvollständig, aber hoffentlich plakativ genug.
Wer Zeit hat, sollte sich die Ausstellung "Das rote Wien" anschauen.
Und erkennen, dass die Sozialdemokratie vor 100 Jahren schon moderner war,
als die Retro-Bürscherln aus der türkisen "Reform-Bewegung".
Und wer Sozialdemokrat ist, geht dort inspiriert und motiviert raus.
Fehlt nur noch die passende Partei dafür.
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Erich Lobinger (Sonntag, 23 Juni 2019 19:08)
Gutes Produkt/Konzept, ich befürchte es findet keine Käufer/Wähler! Leider!
Irmgard (Sonntag, 23 Juni 2019 19:12)
Wir sind dabei
udo kratochwill (Sonntag, 23 Juni 2019 19:25)
ich lese gerne deine kommentare und denke mir, warum sind es so wenige die in diesem sinne aufbrechen wollen. 100 jahre sind doch eine lange zeit zum nachdenken. kreisky und viele sozialdemokraten waren schon sehr viel weiter als die spö jetzt.
Rosi Grieder (Freitag, 23 August 2019 19:42)
Dein Kommentar zu dieser Ausstellung (und deine Anregungen dazu) hat mich sofort daran erinnert, was ich mir am 6.7. zu meinem Besuch aufgeschrieben hatte, und da dies ein weiterer Aspekt ist, hoffe ich, dass du nichts dagegen hast, wenn ich es hier als Ergänzung poste.
Dein Blog gefällt mir sehr gut - und ich komme gern wieder ;)
Vor kurzem war ich in einer sehr informativen und gut gemachten Ausstellung im MUSA/Wienmuseum: „Das rote Wien“ erzählt die sozialistische Geschichte meiner Geburtsstadt, als es in der Zwischenkriegszeit vor Ausbruch des 2. WK einen Aufschwung mit sagenhaften Entwicklungsschritten im Leben der arbeitenden Stadtbevölkerung gab. Großartige Ideen veränderten das Leben in vielen Bereichen: Die Menschen begannen sich selbstbewusst gegen Bevormundung und Unterdrückung zu wehren, besonders die Stimmen der Frauen wurden laut und erkämpften ua das Wahlrecht. Das Gemeinwohl stand an erster Stelle bei der Errichtung großer Wohnbauten mit begrünten Innenhöfen, Luft, Licht und Sonne verbesserten die Lebensbedingungen, praktische und innovative Einrichtungen in Gemeinschaftsküchen, -räumen, -gärten erleichterten das Leben. Kindergärten und Schulen machten aufgrund von Wissenschaft und Bildungspolitik einen großen Schritt vorwärts, ebenso wie das Gesundheitswesen. Sport, Kultur, Kunst war nicht mehr nur den reicheren Schichten vorbehalten. Arbeiterolympiade, Volkshochschulen, Bibliotheken, Jugendzentren, Chöre - viele Lieder, die das neue Lebensgefühl ausdrückten ... wissenschaftliche Arbeiten mit zukunftsweisenden Statistiken bezeugten diese Entwicklung.
Auffallend ist in dieser Ausstellung aber auch, wie viele dieser modernen Ideen, der Parolen und Ausdrucksweisen sofort von den Nationalsozialisten übernommen wurden – okkupiert, ausgenützt und missbraucht mit den heute wohl bekannten, schändlichsten Absichten und verbreitet mithilfe moderner Propagandatechnik und -medien wie Radio und vor allem dem Film. Deshalb finden heute manche Wörter und Formulierungen als „Nazi-Codes“ ihre Verwendung und gelten für deren Gegner für immer als unanwendbar.
Fielen damals so viele Menschen auf die Nazis herein, weil ihnen Vertrautes aus einer so positiven Entwicklung (Aufmärsche, Großveranstaltungen, Gemeinschaftsleben, Gruppen für Kinder und Jugendliche in entsprechenden Heimen ...) vorgespiegelt wurde zum Zweck reiner Machtgier, die im Größenwahn endete?
Wiederholt sich die Geschichte in veränderter Form doch immer aufs neue?
Versuchen nicht gerade jetzt wieder rechte Parteien scheinheilig die langjährigen Themen der Linken und Grünen zu übernehmen, als hätten sie sie erfunden?