Polgar und Tarantino.

Vor drei Tagen sah ich mit meiner Liebsten "Once upon a time in Hollywood" im Kino. 

Quentin Tarantino übernimmt in seinem Meisterwerk - wie schon in einigen vorher - die Aufgabe eines virtuell liebenden Gottes, der das Grauen und die Ungerechtigkeit so umdreht, dass man gar nicht anders kann, als diese wunderbar gerechte Welt für wahr zu halten.  

Parallel dazu lese ich grade einige Meisterwerke von Alfred Polgar, jenes altösterreichischen Verbal- und Geistesakrobaten, der einem immer wieder Mut macht, anzunehmen, dass in unserem Land ein Füllhorn an Geist und Menschlichkeit sprudelt. 

Vor Jahrzehnten schrieb er einen Text mit dem Titel "Verkehrte Welt". Und aus dieser Vergangenheit winkt der große Polgar dem großen Tarantino zu und man wünscht sich, die beiden wären einander begegnet.

Ich möchte hier Alfred Polgar zitieren und in seinen Gedanken schwelgen, die so ernsthaft sind und so verspielt zugleich:


"Verkehrte Welt.

Das Leben ist mancherlei; unter anderem ein Gewebe, ein schwer verfilztes Gewebe von Ungerechtigkeiten. Der Weltenlauf ist geradezu ein amoralischer. Einmal ist das Laster oben, das andere Mal die Tugend unten. Der Schlechte, Rohe, Gemeine behauptet sich, der Brave wird geschunden. Diese Zustände gehen seit langem empfindlichen Naturen auf die Nerven. 


Des öfteren schon bemühten sich Idealisten wie Praktiker, da ein wenig Ordnung zu machen, Ausgleiche zu treffen. Zu solchem Zweck wurden Religionen erfunden, insbesondere Religionen, die diesseitiges Elend zu einem Wechsel auf jenseitiges Wohlbehagen hinaufwerten. 

Aber seit meiner schlichten Entdeckung, 

daß das irdische Leben eben wegen seiner Endlichkeit einen außerordentlichen Seltenheitswert habe, wie er der Ewigkeit, die ja ewig dauert, nicht zukäme, und daß also wahrhaft versäumt sei, was in ihm versäumt würde … seit dieser Entdeckung hapert es bei meinem Leser mit den Tröstungen der Religion. So bleibt als Zuflucht vor dem realen Leben, in dem die Gemeinheit siegt, nur noch die Dichtung, in der die Gemeinheit zuschanden wird. Und der moralische Film. 

Er, der Film, vermöchte in der Tat, für gesegnete Viertelstunden eine Welt vorzuzaubern, in der es Rechtens zuginge und ordentlich und wohlgefällig dem Sittengesetz in uns und dem gestirnten Himmel über uns, der seine Freude hätte, sich in solcher Welt zu spiegeln. Aber wie kläglich nützt der Film seine Macht der Entrückung in schöneres Sein! Er will bessern statt bezaubern. Erziehen statt genugzutun. 

Zum Beispiel: ‹Im Sumpf der Großstadt›. 

In ihn geraten, geraten die Mädchen, nach kurzem schleißigen Glanz, in Elend und Schande. Solche Moralität wirkt nicht erhebend, denn sie kann es mit der Propaganda der Wirklichkeit nicht aufnehmen, die tausendfach lehrt, daß die Mädchen im Sumpf schön und rosig werden, seidig und wohlriechend. Noch als alte Damen schlenkern sie mit goldenen Retiküls … 

Der Film hätte es in seiner Macht, der beleidigten Seele jene Genugtuung an den Beleidigern vorzuträumen, die der gemeine Tag ihr weigert. Und hierzu müßte man nicht einmal besondere Kinodramen erfinden. 

Um so beglückende Welt zu zeigen, brauchte der Kinomann sie nur, wie sie ist, zu drehen … aber verkehrt! Ich sah einmal einen Berliner Herrn am Ufer des kleinen Alpensees fischen. So einen mit dem Scheckbuch in der hintern Hosentasche, das die Wölbungen dort noch mächtiger sich wölben läßt. Neben ihm schnaubte sein Auto. Er trug ein Steirerkostüm, eine rot-schwarz karierte Joppe, Schuhe von zermalmender Festigkeit, gebaut zum Treten und Zertreten. In den Schuhen, festgenagelt, stand die Form aus Lehm geballt. Die nackten, feisten Knie und der feiste Schädel bildeten ein Dreikugelsystem, auf dem der ganze Kerl, horizontal gelegt, sich bequem rollen lassen müßte. Dieser Gewaltige nun fischte. Stundenlang. Er fischte Fische, nein, Fischlein, Fischchen, oh, so ganz armselige, fingerlange, lächerlich magere Geschöpfe. Kein Gramm Fleisch an ihnen. Im Wasser waren sie gewissermaßen etwas, eine Bewegung, eine verflitzende, verfließende Ringelarabeske, ein Kreiselwellchenmittelpunkt, außerm Wasser waren sie gar nichts. Dutzendweise riß er sie in die schnöde Luft, zerschlug ihnen die Köpfe an den Holzpfosten und schleuderte die Toten auf einen Haufen ins Gras. 

Wenn er fertig war, nahm er die Fischleichen und warf sie ins Wasser zurück. Dann bestieg er das Auto, und Schatten des Geschäfts senkten sich über seine Stirn. 

Da kam mir der innige Wunsch: es einmal umgekehrt zu sehen. Einmal den Fisch zu sehen, wie er dicke Finanzmänner angelt, sie eine Weile strampeln läßt, ihnen den Kopf knallend an das Holzpflaster schlägt, sie auf einen Haufen schleudert und dann wieder wegrudert, indes Schatten des Fischgeschäfts über seine Glotzaugen sich senken. Ich erinnere mich eines Bildes im Bilderbuch: der Hase, das Gewehr an der Backe, brennt dem davonlaufenden Jäger eines auf den Pelz. O tiefsinnige Konzession an das Kind als an das Wesen, dessen Rechtsgefühl von der Praxis der Welt noch nicht verwirrt ist. Aus einem Quell mystischer Ursittlichkeit springt die kindliche Freude an dem Hasen, der den Jäger jagt. Und der große Swift, Ehre ihm, hat die Houyhams erfunden, die weisen Pferde, die den Menschen als Haustier halten. (Obgleich sein Geruch ihnen Übelkeiten erregt.) 

Welche Aufgabe für den Film, die Welt zu verkehren, daß sie, in seligen Minuten der Kinoillusion, eben weil sie verkehrt läuft, richtig läuft! Zumindest im Film möchte ich einmal sehen, wie der Hund den Herrn prügelt, wie der Milliardär im Heizraum schwitzt und der Heizer auf Deck Shimmy tanzt, wie die Gans der Bäuerin Maiskörner in den Schlund stopft, daß sie eine fette Leber bekäme, wie der Filmunternehmer von seinem Statisten Vorschuß erbettelt und das Megaphon «Nein» brüllt, wie der Sträfling den Zuchthausdirektor wegen Frechheit in die Dunkelzelle schickt, wie die Schreibmaschine den Dichter klopft, und wie der sinnlos gepeinigte Mensch Gott vor seinen Richterstuhl zitiert."

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