Es fällt mir immer schwerer, den meistabgedroschenen Standard-Kommentar über den Niedergang der Sozialdemokratie zu ertragen: Die SPÖ (sinngemäß alle SPs in Europa) hätte doch in den letzten 2 bis 3 Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts alles erreicht, was das Leben der Menschen lebenswert macht und nun sei halt der Ofen aus.
Dafür gibt es natürlich auch ein paar schöne Begriffe: Komfortzone, Materialermüdung, Strukturkonservativismus...
Eh. Stimmt auch alles.
Was einen als heimatlosen Linken fertigmacht, ist das Verharren in diesem Lamento. Und natürlich muss sich einer wie ich auch höllisch davor hüten, der Hybris und der Selbstgerechtigkeit zu verfallen.
Trotzdem nehme ich mir die Freiheit, zum wiederholten Mal darauf zu verweisen, dass es sehr wohl mehr als drängende Probleme gibt, die ausdrücklich nach einer sozialdemokratischen Perspektive schreien.
Irritierenderweise wird ein Großteil dieser Themen von anderen Parteien bespielt.
Die Migration von FPÖVP, die Bildung von den Pinken und der Klimawandel von den Grünen.
Das alles hätten angestammte rote Themen sein müssen (Ja, auch der Klimawandel - nach der Schande der Abwesenheit roter Leadership bei Kernkraft und Hainburg),
aber wer sich ständig fragt "wie muss ich sein, damit andere mich mögen" wird nie die Themenführerschaft übernehmen können.
Bleibt wenigstens 1 Thema, vor dem sich alle in die Hosen machen: Die Digitalisierung.
Obwohl alle politischen Akteure wissen müssten, welcher unglaubliche sozialpolitische Sprengstoff in diesem Thema steckt, kommt niemand so richtig in die Gänge. Glanzlicht der intellektuellen Nullbotschaft die Forderung des 33 jährigen Kanzlerkandidaten nach einer "Ö-Cloud".
Schlimmer kann man Unwissenheit mit Xenophobie nicht mehr paaren.
Warum sollen sich die Roten dann diesen Schuh anziehen?
Weil die Rationalisierungseffekte der Digitalisierung drauf und dran sind, ein völlig neues Proletariat zu schaffen. Eine Klassengesellschaft, in der die Mehrheit von den Segnungen des Wohlstands ausgeschlossen bleibt. Weil ein Lastwagenfahrer, der von einem selbstfahrenden LKW weggespart wird, nicht so einfach zu einem digitalen Developer umgeschult werden kann. Weil auch mittlere Angestellten-Hierarchien von den Algorithmen gefrühstückt werden.
Und dann ist es für diese Menschen (Leider!) nicht mehr so wichtig, dass die Mieten so teuer sind - sie werden dann nämlich gar keine Wohnungen mehr haben!
Natürlich braucht es, um so ein heißes Eisen anpacken zu können, auch ein gerüttelt Maß an Mut. Und man müsste schon ein bisschen mehr die Nase vorn haben, als es dabei bewenden zu lassen, als Letzter endlich auch Facebook für sich entdeckt zu haben.
Und man sollte die Digitalisierung auch systemisch anschauen: Mit all den dringend erforderlichen Bildungsaspekten, mit den Migrations-Effekten, wenn plötzlich die ach so erwünschten hochqualifizierten "Ausländer" vor der Tür stehen. Mit den sozialen Begleiterscheinungen einer jungen Generation, die sich selbst ausbeutet, um miserabel bezahlte Jobs zu haben und wenigstens beim Klima ihr Rückgrat gefunden hat.
Mit all dem reaktionären Scheiß, der durch die Gesellschaft schwappt, Hauptsache, wir schaffen es, nachzuäffen, was irgendwelche Influencer uns vorbeten.
Das, ehrwürdige Sozialdemokratie, sind die Themen, die ihr nicht anrührt.
Dort, verehrte Reisende im Schlafwagen der Geschichte, wohnen die Visionen.
Wacht auf, geht ans Werk und hört endlich auf, Euch zu fürchten, bevor es Euch gar nicht mehr gibt.
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Marion (Sonntag, 06 Oktober 2019 20:28)
Es ist so gewaltig und radikal dieser Change, der vor uns steht, dass sie gar nicht wissen wo sie anfangen sollen. Und da ist dann die Angst die erste Regung, ganz offensichtlich. Und es ist immer so, dass der Schüler erst zum Meister geht, wenn er nicht mehr weiter weiß. Good nicht du ewiger Kämpfer. Das mag ich.