Meine Tante Herma.

Meine Tante Herma. 1920-2009. 

Sie war die ältere Schwester meines Vaters. Geboren in Hohenfurth, dort aufgewachsen, von dort vertrieben und den Großteil ihres langen Lebens in Karlsruhe gelebt. 


Eine kleine große Frau. 1 Meter 60 (höchstens) mit einem Herzen wie ein
Ballsaal und einem sehr wachen Geist. 

Auch wenn dieser Begriff durch ein paar dumm-rechte Lemuren verunstaltet worden ist: Sie war mein Lebensmensch. 

Meine Eltern haben sich mit
dem Eltern-Sein sehr schwer getan. 

Und da ist mein Tanterl - so habe ich sie so gern genannt - in die Bresche gesprungen. 


Ich durfte von ihr lernen, was Liebe ist. Ehrlichkeit, Toleranz, Fehler-haben-dürfen, Esprit, Trost, Streiten können und dürfen, Loyalität. Auch wenn sie ein Frauen-Bild hatte, das mir immer wieder Schwierigkeiten bereitet hat.
Sie verstand Frauen als das unverzichtbare Lebenselement der Männer. Weil die zwar
beruflich und gesellschaftlich den Ton angeben würden, aber in Wahrheit unfähig wären, sich die Schuhe selber zuzubinden. 

In ihren Augen hatte ein Mann es dann geschafft, wenn er (endlich) eine Frau gefunden hatte, die Ordnung in sein vertracktes Leben gebracht hatte. 

In der Hinsicht musste sie bei mir natürlich lange warten und hat es letzten Endes leider nicht mehr erlebt. 


In der Hohenfurther Zeit war meine Tante die Tochter sehr wohlhabender Eltern
und auch mit einem sehr resoluten Ego ausgestattet. 

Zu allem "Überfluss" hatte sie in der
tschechoslowakischen Lotterie den Haupttreffer gemacht und einen Haufen Geld und einen Autobus (!) gewonnen. 

Um den Gesamt-Erlös hat sie sich ein wunderschönes Haus gebaut,
das heute noch steht und von einem Zahnarzt bewohnt wird, der zweisprachig ordiniert. 

Aus Linz fahren viele Patienten hin, um sich günstig ihr Innenleben sanieren zu lassen. Meine Tante und meine spätere Schwiegermutter haben sich gut gekannt, beide verband die Liebe zur Pharmazie. 


Tanterl hat dann einen erheblich älteren Mann geheiratet und ihm zwei
wunderbare Söhne geboren. 

Das Pharmazie-Studium hat sie an den Nagel gehängt. Dann Kriegsende und Vertreibung. Den jüngeren Sohn bei den Großeltern zurückgelassen, bis auch die vertrieben wurden. Kurzer Zwischenstop in Linz, dann Ausbürgerung und nach Karlsruhe.
Dort eine neue Existenz aufgebaut. 


Mein Onkel war ein Handelsakademie-Professor und der Inbegriff des Schrulligen. Er war sein Leben lang niemals krank. 

Und dann ist er mit 65 plötzlich gestorben. 


Für meine Tante begann ein anderes Leben. Auch mir gegenüber. Ich habe drei Sommer bei ihr verbracht und die Atmosphäre der liebevoll-geistreichen Leichtigkeit über alles genossen. 

Bis zu ihrem Tod waren wir auf eine Weise miteinander verbunden, dass ich bei allem, was mir wichtig war, reflexartig bei ihr angerufen habe, um mich mit ihr auszutauschen. 

In den späten 60er Jahren hat sie Willy Brandt gewählt und war damit der rote Outlaw in einer brav konservativen Familie. Als ich mich durch das Studium auch links der Mitte eingependelt hatte, konnten wir eine sehr lustvolle Allianz schmieden. 


Noch heute bewundere ich sie für ihre Einstellung gegenüber der Vertreibung der Sudetendeutschen. Während andere
unversöhnlich den Verlust auf immer reaktionäreren Treffen bedauerten, sagte sie: "Auch wenn meine Familie den Tschechen niemals etwas angetan hat - ganz im Gegenteil! - so haben sich doch sehr viele Deutsche aufgeführt wie die Schweine. 

Dass die Tschechen uns nach dem Krieg nicht mehr haben wollten, wundert mich nicht!" 

Sie blieb mein Referenzrahmen und mein Bezugspunkt. 

Der Abschluss meiner Coach-Ausbildung und ihr 85. Geburtstag fielen zeitlich zusammen und ich habe einen Drucker in den Wahnsinn
getrieben, weil ich meinem Tanterl meinen ersten Flyer druckfrisch zur Geburtstagsfeier
bringen wollte. 

Dann wurde sie bei einem Spaziergang von einem Skateboardfahrer umgestoßen und das bei alten Menschen labile Gleichgewicht zwischen Gesundheit und Siechtum kippte. 


Unser letztes Zusammensein war über die Maßen berührend. Sie lag vollkommen angezogen im Bett im Altersheim, das Gesicht zur Wand und jammerte über ihre
beschissene Situation. Sie wünschte sich die Demenz, damit sie ihre Lage nicht mehr
wahrnehmen musste. 

Und ihr über 50-jähriger Neffe saß am Bettrand, verbarg sein Gesicht in
den Händen und heulte wie ein Schlosshund.

Nach der Mittagspause kamen wir wieder ins
Heim zurück und ihr Zimmer war leer. Panik. Dann haben wir sie auf der Terrasse gefunden.
Sie hat sich von einer Pflegerin dahin bringen lassen, hatte einen Teller mit einem
Zwetschkenkuchen auf dem Schoß und grinste mich an. Sie hatte es nicht ertragen, ihren Liebling so heulen zu sehen und schenkte mir diesen heiteren Anblick als letzten, den ich mitnehmen durfte. 

Ein paar Wochen später war sie tot. 

Ich hatte - ahnungslos - in der Nacht,
in der sie starb, kein Auge zugetan.

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Kommentare: 3
  • #1

    Elisabeth (Freitag, 01 November 2019 13:11)

    Eine wundervolle und sehr berührende Liebeserklärung. Danke, dass ich teilhaben darf.

  • #2

    Karin Löfler (Samstag, 02 November 2019 09:10)

    Sehr berührende und einfühlsame Geschichte! Jetzt heul dafür ich... �

  • #3

    Marion (Samstag, 02 November 2019 20:23)

    Ich finde das so schön, dass man das doc spüren kann, wenn sich liebe Menschen von uns verabschieden. Das teilen sie uns mit. Das kenn ich auch und habe es auch schon von anderen gehört. Man sagt ja, dass die Seele 3 tage braucht um sich zu verabschieden, deshalb hat das aufbahren der Verstorbenen früher zu Hause auch Sinn gemacht. Deine Tante Hermann freut sich sicher über deine Geschichte.