Hofrat Dr. Mittenwenger hatte soeben die offizielle Übersicht über seine bisherigen Dienstzeiten in treuer Loyalität zur Republik erhalten. Laut Mitteilung der Bundesrechenstelle hatte er das Recht erworben, in exakt 3 Jahren und 27 Tagen in den Ruhestand zu treten.
Der Hofrat wusste, dass es für einen pragmatisierten Staatsdiener natürlich so etwas wie Ruhestand gar nicht gab.
Wie seine Mutter selig nicht müde geworden war, zu betonen, blieb ein österreichischer Staatsdiener lebenslang im Dienst, auch wenn er real die wohlverdiente Pension konsumieren würde.
"Konsumieren". Dieses Wort prickelte auf Mittenwengers behaartem Rücken.
In seinem asketischen Lebensentwurf hatte "konsumieren" so einen verruchten Beigeschmack wie "prassen".
Aus Sicht des Hofrats entsprach die Beamtenpension einer späten, aber umso verdienteren Würdigung einer lebenslangen Aufopferung im Dienste des Staatswesens,
die von würdelosen Stammtischbewohnern nicht einmal annähernd estimiert werden konnte.
Hofrat M. öffnete die Schreibtischlade seines opulenten Büromöbels. Es entsprach natürlich in gar keiner Weise modernen ergonomischen Anforderungen. Seit 30 Jahren durfte er die Leihgabe des Hofmobiliendepots einer persönlichen Nutzung zuführen. Die Tischplatte war um ca. 10 cm zu niedrig für seine Körpergröße, was ihm und seinem Rücken eine elegante Krümmung bescherte, der sich seine Bandscheiben wundersamerweise protestlos gefügt hatten.
Wenn der Herr Hofrat gemessenen Schrittes auf der Ringstraße seinem Ministerium zustrebte, erweckte der Bogen seines Rückens den Eindruck eines Helden der Bürokratie, dem die Jahre der Last der Verantwortung für einen geregelten Gesetzesvollzug eine unsichtbare Bürde auferlegt hatten. Mittenwengers Frau hatte jüngst beim Sonntagsspaziergang liebevoll festgestellt, dass sich der treusorgende Gatte nun auch einer ganz speziellen Spezies angeschlossen hatte:
Jener Gruppe von graumelierten Herren, die bei angemessenem Sonnenschein den Hut abnahmen und diesen in den Händen wippten, die hinten am Rücken ineinandergelegt waren.
Es gab vom Kreisky selig Fotografien, die den weisen Staatsmann in genau jener Körperhaltung respektabler Dignität abbildeten.
Gedankenverloren hatte des Hofrats Bewegung in der Öffnung der Schreibtischlade gestockt und es dauerte ein paar Sekunden, bis er wusste, was er intendiert hatte.
Mit einem sacht-liebevollen Griff entnahm er der Lade ein Fotoalbum. Der Einband war aus jenem aufgerauhten Karton, den heute nur noch ausgewählte Buchbinder aus antiquarischen Beständen hervorkramen konnten. Der Rücken war aus dunkelbraunem Leder gefertigt, das wahrscheinlich sogar einen Wasserstoffbombenangriff ohne äußere Zeichen überstehen würde.
Des Hofrats Hände - elegant mit Altersflecken gesprenkelt, die noch nicht die kleinen Hämathome sehr alter Menschen aufwiesen und die von kundigen Frauenhänden minutiös manikürt worden waren - blätterten in Zeitlupe in den Seiten, die noch von imprägniertem Seidenpapier getrennt waren.
Sein Auge ruhte wohlgefällig auf einem Foto aus Studentenzeiten. Es zeigt ihn im Lodenmantel vor dem Neuen Institutsgebäude. Seine Mama hatte mit weißem Stift auf das dunkelgraue Papier geschrieben:
"Mein Anton. 1978."
Sogar nach so vielen Jahren immer noch verblüfft, bewunderte der Hofrat die Zeitlosigkeit seines Auftritts. Bis auf den altersadäquaten Fortschritt der Geheimratsecken und die ergrauten Strähnen des an den Schläfen zurückgekämmten Haars hatte er sich sogar das jungenhafte Lächeln bewahrt, mit dem er schon seine Volksschullehrerin bezirzt hatte.
Hofrat M. ruhte in sich. Er hatte es geschafft. Mehr als 40 Jahre waren faktisch spurlos an ihm vorbeigezogen. Schon vor 10 Jahren hatte er aufgehört, die Minister zu zählen, die wie die Wasserleichen an ihm vorbeigeschwommen waren, während er mit seinem Picknick-Korb am Ufer der alten Donau saß und die mitgebrachten kalten Schnitzel mit Kartoffelsalat verzehrte.
Unaufhaltsam hatten ihm die Vorrückungen seiner Dienstjahre Erhöhungen seines Salairs beschert.
Und seine Widerstandsfähigkeit gegen die absurdesten Auswüchse proletoider Bildungsferne und charakterlicher Untiefen in eine fast narkotische Schmerzlosigkeit vertieft.
Der Herr Hofrat sollte wohl auch die aktuellen Verwerfungen und tektonischen Auffaltungen des politischen Systems überstehen.
Erst kürzlich hatte er den Lodenmantel aus Studentenzeiten neu aufarbeiten lassen.
Der wird auch die nächsten 40 Jahre noch überstehen.
Gemeinsam würden sie in Würde altern.
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