Ist so.

Manchmal in der U-Bahn fühle ich mich unwohl, wenn ich von sehr vielen Menschen umgeben bin, deren Aussehen mich irritiert und deren Sprache und Verhalten ich nicht verstehe. 

Und dann sehe, höre und "verstehe" ich all jene, die laut und inhaltlich stinkend gegen genau diese "Fremden" agitieren und ich vollziehe den gedanklichen und emotionalen Schulterschluss mit den "Fremden", weil ich ihre Gegner so verachte. 

 

Das eigene Wohlverhalten und die eigene Moral "erhebt" sich leider (!) allzu oft erst in der Gegenbewegung zu den Arschlöchern, die man halt für noch verachtenswerter hält, 

als die eigene Tendenz zur Niedertracht.

 

Vor genau vier Jahren war ich auf Reha wegen meiner Bandscheiben, die mir das Leben zur Hölle gemacht haben. (Seitdem - und weil ich regelmäßig meine Übungen mache - ist mein Rücken mein Freund.) Dort habe ich beobachtet, wie sich muslimische Frauen im Burkini im Therapie-Schwimmbecken aufhielten. Strengst unter Beobachtung ihrer Ehemänner, die am Beckenrand auf und ab gingen, um jeden Kontakt ihrer Frauen mit anderen Männern sofort zu unterbinden. 

Das war mir als Mann extrem unangenehm und ich habe mich fremdgeschämt für meine Geschlechtsgenossen aus der anderen Kultur.

 

Und dann hörte ich beim Frühstück, wie sich am Nebentisch andere Männer - aus "unserem Kulturkreis" - damit brüsteten, sich bis 2 Uhr Früh die Nacht beim Kartenspiel und mit einem Doppler Weiß um die Ohren gehaut zu haben. Und da fiel mir ein, dass ich ursprünglich eine Wartezeit von 11 Monaten für den Antritt einer Kur gehabt hätte und nur durch das Einsehen eines mitfühlenden Sachbearbeiters meine Kur auf eine Reha umgewandelt wurde und ich dadurch früher drankam und erheblich schneller die dauerende Einnahme von Tramal beenden konnte. Aber der Gedanke an die goldketterlbehängten Kartentippler, die anderen Kranken die Behandlungsplätze wegsaufen, machte mich extrem zornig.

 

Manchmal fällt es mir so unendlich schwer, mit dem bewusst selektierten Halbwissen von Menschen umzugehen, die sich in meiner Nähe aufhalten. Die sich von Informationsquellen fernhalten, die ihnen ein kompletteres Bild über "die Lage" vermitteln könnten. Aber dieses "komplettere Bild" wollen sie nicht, weil es ihnen Unfrieden in ihr Weltbild kippen würde.

Und dann merke ich, wie ich öffentliche Auftritte von wesentlichen Leuten nicht mehr ertrage und die filmischen Wiedergaben nur noch mit Untertiteln aushalte, weil ich schon die Stimme der Akteure nicht mehr hören kann.

Und dann stecke ich ab und zu selbst in Situationen, wo mir das Herz so weh tut, weil es einem geliebten Menschen schlecht geht und genau die "Halbwissenden" melden sich dann und bieten - ungefragt! - ihre ehrlich gemeinte Hilfe an. 

 

Ich glaube, das Älterwerden hat - jedenfalls für mich - nicht den Vorteil der "Altersmilde" im Gepäck. Manchmal spüre ich, wie ich in - für mich - prototypischen Situationen reflexartig "grumpy" werde. Und dann bin ich auf die Milde und das Verständnis meiner Umgebung angewiesen, die viel Liebe aufwenden muss, um mit mir zurechtzukommen.

Und umgekehrt sehe und spüre ich, wie das Bohren dicker Bretter und die eigene Ausdauer unentbehrlich sind, um Verständnis und Erkennen in meiner Umgebung zu unterstützen.

 

Und immer wieder fällt mir die Kantische Definition von "Toleranz" ein:

"Toleranz ist das liebevolle Annehmen des Anders-Seins."

Das ist eben nicht die wörtliche Übersetzung des lateinischen "tolerare" im Sinne von ertragen/erdulden, wie manche Bildungsbürger nicht müde werden, zu strapazieren.

Oder, wie Adorno es so wunderbar auf den Punkt bringen konnte:

"Jeder hat das Recht, ohne Angst verschieden sein zu können."

 

Das ist und bleibt die ultimative Herausforderung.

Die noch dadurch verschärft wird, rechtzeitig den Feinden der Toleranz entgegenzutreten, damit die Toleranz selbst am Leben bleiben kann (Popper). 

 

 

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