Seit 1945 lebt in Österreich die Legende der "Lagerstraße".
Sie beschreibt die Läuterung der unversöhnlichen Gegner auf Seiten der Christlich-Sozialen und der Sozialdemokratie der Ersten Republik durch das gemeinsame Leiden in den Nazi-Konzentrationslagern.
Ganz vieles wird dieser Katharrsis zugeschrieben.
Der Wiederaufbau, das Wirtschaftswunder, die Sozialpartnerschaft (von Bruno Kreisky als "Klassenkampf am grünen Tisch" bezeichnet), der berühmte soziale Friede (Die Dauer von Streiks wurde pro Jahr in Sekunden gemessen).
Heute (genau heute!) könnte man durchaus nachdenklich werden, wieviel von dieser Legende (die ja auch messbare Realitäten geschaffen hat) noch lebt und für die Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens (Politik als Ort, wo wir uns ausmachen, wie wir miteinander leben wollen) relevant ist.
1983 habe ich meine Dissertation über die österreichische Sozialpartnerschaft fertiggestellt und konnte - auf die damaligen Verhältnisse bezogen - empirisch beleuchten, dass die Sozialpartnerschaft eben nicht westlich-pluralistisch, sondern neo-korporatistisch aufgebaut ist. Also in einer Struktur, die ohne den Klassenkampf auf der Straße auszuführen, die Reduktion auf die mächtigsten Player im Wirtschafts- und Sozialleben zum Prinzip erhoben hatte.
Und - ein historischer Zufall - die Dissertation zeigte,
dass meine Zeitreihenuntersuchung als Wiederholung einer Studie von Bichlbauer/Pelinka aus dem Jahr 1971 genau die Zeitspanne der absoluten Regierungsmehrheit der SPÖ abdeckte. Diese 12 Jahre hatten im Bewusstsein der 40 Vertreter in der Paritätischen Kommission fast keine Spuren hinterlassen.
Dem damals recht radikalen Dissertanten hatte das Defizit in der demokratischen Legitimierung nicht gefallen.
Heute - nach Demontage der Sozialpartnerschaft durch Schüssel und seine Erben - beschleicht mich eine zarte Sehnsucht nach dieser "Nebenregierung", die sogar eine absolute rote Mehrheit regelmäßig konterkarieren konnte.
Heute - so erscheint es mir - ist der Lack der Lagerstraße ab. Gründlich. Die Gräben zwischen Türkis/Schwarz und Rot sind zu dunklen Kratern geworden, in denen jede Chance auf Interessens-Ausgleich (das war das positive Geheimnis der Sozialpartnerschaft) hoffnungslos verschwindet.
Uralte Ressentiments kriechen aus den ideologischen Friedhöfen. Wir haben ein 24/7 aktives politisches Halloween.
Mit Schuldzuweisungen auf eine Seite ist nichts erreicht.
Zu sehr haben insbesondere 8 Jahre Faymann den Glauben an eine intelligente Sozialdemokratie zerstört und ebenso bisher 8 Jahre Schüssel/Kurz den Glauben an eine menschliche konservative Politik.
Noch weiter zurückzuschauen lohnt sich nicht. Der Verdacht, dass mittlerweile zwei Generationen eine dröge und gefährlich uninspirierte Politik erlitten haben, wird sich sicher erhärten lassen. Ebenso wie die unübersehbare aktuelle Wirklichkeit so sehr erschreckt, wenn hohle Parolen aus der Mottenkiste des 19. Jahrhunderts immer noch besser ziehen, als ein völlig verarmtes sozialdemokratisches Flickwerk aus Ideen-Ersatzstoffen, die unübersehbar dem Diktat ständig schwankender Meinungsforschungen nachlaufen.
Unübersehbar auch: Die wieder an der Oberfläche erlaubten tiefen Verachtungsbrüche zwischen Rot und Türkis, die sich in einer jämmerlichen Manie erschöpfen, den anderen von allen Hebeln der Macht wegzukippen. Diese vor allem türkise Strategie geht hauptsächlich deswegen so gut auf, weil die Sozialdemokratie immer noch glaubt und hofft, dereinst wenigstens als Juniorpartner der Türkisen wieder ein bissi mitspielen zu dürfen.
Währenddessen brechen die Frostaufbrüche auf den Verkehrsadern der Demokratie ungehindert weiter auf und das politische System holpert von einem Schlagloch zum nächsten. Bis der erwartbare Achsbruch den vollkommenen Stillstand und den Wechsel von Fahrzeug und Strecke notwendig macht.
Ob wir alle das wirklich wollen...
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