Sie haderte. Mit ihrem Schicksal. Mit der Gegenwart.
Mit der Vergangenheit. Mit der am allermeisten.
So viele Weichen. So oft falsch abgebogen.
Unwiderruflich falsch. Beinahe tragisch. Was heißt beinahe? Ganz sicher und zweifelsfrei tragisch.
Und jetzt? Irgendwie fühlte sich alles wie eine jener Rutschbahnen in den Freibädern an, wo man oben in eine nasse Röhre einsteigt und dann bis zum platschenden Aufschlag nichts sieht. Weil man eben in einer Röhre rasend schnell nach unten rutscht und außer der vermuteten Sonne, die auf die Außenseite brennt, nichts sieht. Und dann der Aufschlag, der sich wie ein Aufprall anfühlt, während man nach unten gezogen wird. Wie von einer unsichtbaren Hand. Und die Luft bleibt weg.
Von dort wollte sie nicht mehr auftauchen.
Nie mehr.
Und dann war dann immer irgendeine Hand, die sie nach oben zog. Immer mit bester Absicht. Und immer die falsche Hand. Bei deren Inhaber sie sich dann auch noch bedanken hätte sollen, obwohl sie sie lieber wütend wegschlagen wollte.
Aber ohne Bedanken gibt es kein Mitleid. Und ohne Mitleid keine Chance, die Tragik ihres Lebens zu erzählen. Jemandem, der die gut formulierten Stehsätze noch nicht kannte. Oder der sie trotzdem wieder hören wollte. In der Hoffnung auf Belohnung.
Die konnte immer wieder mal recht großzügig ausfallen. Bis zum Übermaß.
Wenn die Dankbarkeit zur aufgedrängten Zwangsdosis wird, schmeckt sie nicht mehr gut.
Wie ein Chateaubriand. Aber jeden Tag.
Dann wandten sich die gutwilligen Retter ab.
Wegen Überfütterung. Und wurden mit Liebesentzug und Kontaktsperre bestraft. Weil es kein Mittelmaß gab. Niemals. Für niemanden und für nichts.
Nur brennheiß und arschkalt. Nichts dazwischen.
Sie dachte an den Schustermeister. Mit seinem kleinen Geschäft. Damals, als in der Zeit des Wirtschaftswunders handgemachte Schuhe aus der Mode kamen. Weil die großen Ketten jedes Jahr die tollsten Modelle rausbrachten. Die hielten zwar nur ein Jahr, aber was solls - nächstes Jahr, nächstes Modell.
Da konnte der Schustermeister nicht mit.
Nur noch Reparaturen. Ein Doppler war schon das höchste der Gefühle: Neue Sohle, neuer Absatz.
Seinen Gesellen hatte er entlassen müssen.
Das Geschäft ernährte nur noch ihn.
Aber lustig war er. Trotzdem. Beim Wandern. Beim Schifahren. Beim Gstanzel-Singen. Beim Schustern.
Sie errötete bei der herrlichen Doppelbedeutung dieses Wortes. Ja, Schustern konnte er.
Da hätte sie schon süchtig werden können danach.
Vielleicht war sie es sogar geworden.
Wenn er dann vor dem Waschbecken stand und sich das Handtuch über sein Instrument gelegt hatte.
Mit dem schelmischen Seitenblick zu ihr, die - kaum wieder bei Atem - schon wieder an das nächste Mal dachte.
Sie hatte ihn dann irgendwann stehen lassen.
Auch das in der grausamen Doppelbedeutung des Wortes. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass er bei ihrer strengen Mutter auf zumindest gnädige Duldung gestoßen wäre. Oder dass er ihr das Leben in Wohlstand und Sicherheit hätte bieten können, das sie sich so sehr ersehnte.
Aber eben - so war sie halt - nur ganz oder gar nicht.
Wohlstand, Sicherheit, Spaß, Lust. Lust. Wie sehr vermisste sie die. Wie viel würde sie heute dafür geben, einfach nach Lust und Laune in den Tag hinein zu leben. Und sogar das mit dem Wohlstand hätte sich noch ergeben.
Der Schuster hatte mit der ihm eigenen Standfestigkeit die Jahre überstanden. Und heute gaben sich die Alt- und die Neu-Reichen bei ihm die Klinke in die Hand. Weil seine Budapester waren nun einmal die allerbesten. Sauteuer. Aber die konnte man notfalls noch den eigenen Söhnen vererben (die Alt-Reichen wussten das eh schon immer, nur waren sie jetzt wieder zu frischem Geld gekommen).
Und für die Damen: Der Schuster hatte da irgend so ein spezielles Fußbett erfunden, mit dem sogar der böseste Halux wieder erträglich war. Typisch, dachte sie, nicht einmal einen Halux hat mir das Schicksal gegönnt.
Vor 20 Jahren war er einmal bei ihr aufgetaucht.
Zur Jause. Hatte Blumen mitgebracht. Die musste sie nachher wegwerfen. Ihr Mann brachte ihr nie Blumen und woher wären dann ausgerechnet die gekommen?
Der Schuster hatte ihr gesagt, dass er jetzt wieder Personal beschäftigt. Er wäre jetzt soweit.
Und ob sie nicht doch...
Nein. Sie wollte nicht mehr. Sie hat es sich nicht erlaubt. Sie hatte Kinder in der Zwischenzeit.
Trotz allem. Und denen wollte sie das Schicksal von Scheidungskindern ersparen. So wie sie selbst eines war. Und das war doch ihr Generalargument für all ihr Übel. Das wollte sie ihren Kindern nicht antun.
Obwohl der Ältere ab und zu so komische Bemerkungen machte. Ob es nicht im Internat schöner wäre, als daheim.
Nichts da. Ganz oder gar nicht. Alles oder nichts.
Dann eben gar nicht. Und nichts.
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