Jahrzehnte entlang der U4.
Heute bin ich fast die gesamte Länge der Wiener U-Bahn-Linie U4 gefahren: Von Friedensbrücke bis Ober-St.Veit.
Dabei ist eine riesige Strecke meines bisherigen Lebens in Wien - immerhin 45 Jahre! - an mir vorbeigezogen.
Station Rossauerlände.
Genau dort - in der Mosergasse, die quer zur Rossauerlände verläuft, Hausnummer 3, kurz vor der Einmündung in die Hahngasse - habe ich meine ersten 8 Wiener Jahre verbracht. Mit mehr Glück, als Verstand ist mir dieses Juwel von einer Adresse "passiert".
1977, gegen Ende meiner Bundesheerzeit, habe ich im KURIER - damals noch eine sehr gute Zeitung - Wohnungsanzeigen aus Wien durchgeackert. Ich hatte - mangels Ortskenntnis - nur ein einziges Kriterium: Größe und Preis.
Mein Vater hatte mir in einem Anfall unglaublicher Großzügigkeit versprochen, wenn ich eine Wohnung um maximal 2.500 Schilling Miete fände (ein sehr gut bemessenes Budget), dann dürfte ich die mieten.
Also fuhr ich nach telefonischer Terminvereinbarung für einen Tag von Linz nach Wien, um dort eine Liste von Wohnungen innerhalb dieses Preisrahmens abzuklappern.
Ich hatte eine Idee, auf die ich auch heute noch ein bisschen stolz bin: Am Westbahnhof bestieg ich ein Taxi, zeigte dem Fahrer die Adressliste und handelte eine Pauschale aus. 400 Schilling.
Dafür brachte der Fahrer mich zu allen Adressen, wartete auf mich vor Ort und erklärte mir bei jeder Adresse den Status des Bezirks und die Verbindung zur Hauptuni.
So blieben mir ein paar durchaus große Wohnungen in beschissener Lage erspart und - tatsächlich! - die letzte Adresse war die Mosergasse. 15 Minuten zu Fuß zur Uni, 1 Minute zur U4, im wunderschönen Alsergrund mit damals einer Infrastruktur, die noch viel mehr der dörflichen Struktur des Servitenviertels entsprach, als heute. Allein drei Fleischhauer in nächster Nähe, zwei Greißler gleich neben der Haustür ... heute alle verschwunden.
Ich war im Glück, entwickelte umfassende hausmännische Fähigkeiten und überwand binnen drei Monaten die ursprünglich grausame Einsamkeit als frischgfangter Zuagraster aus der Provinz.
Über diese wundervollen Jahre, die ein heute Studierender in dieser Form gar nicht erleben kann, schreib ich gern ein anderes Mal mehr.
Station Schwedenplatz.
Gaanz großer Zeitsprung. Dorthin fahre ich, wenn ich einen meiner größten Kunden besuche: Die Uniqa Versicherung. Seit Corona darf ich nicht in den Turm, bin aber virtuell mit meinen Ansprechpersonen verbunden. Auf diesen Kunden bin ich richtig stolz. Gebettet in ein fundamentales Vertrauen habe ich dort seit 2016 einen ganzen Bereich begleitet und - gemeinsam mit einem Prozess-Spezialisten, der in der Zwischenzeit mein Freund geworden ist - mehreren Teams geholfen, ein paar sehr strukturelle Changes zu stemmen.
Auch mit diesen Teams hat sich eine fast blinde Vertrauensbasis aufgebaut. Etwas, auf das jeder Coach stolz ist. Und ich natürlich auch.
Station Pilgramgasse.
Dort stieg ich immer aus, wenn ich meinen engsten Studienfreund "Happy" besuchte, der in der Bräuhausgasse wohnte. Happy und Sunny - wir waren ein Duo wie Pat und Patachon. Eine extreme Schnittmenge in Intellekt und Humor sorgte für immer wieder aberwitzige Aktionen. Auch wenn bei manchen dieser Aktivitäten das intellektuelle Level weit unterhalb des Spaßfaktors lag.
In Zeiten knapper Kassen fuhren wir mit dem D-Wagen nach Nussdorf, biederten uns bei den zahlreichen deutschen Touristengruppen an, genossen deren Weine und fungierten ab und zu auch als sehr private Fremdenführer für ängstliche deutsche Damen, die dem nächtlichen Wien nicht so ganz trauten. Uns aber schon...
Einmal - im Fasching - borgten wir uns von den damals noch zahlreichen Zeitungskolporteuren deren Monturen aus, nützten unsere optische Ähnlichkeit mit den aus arabischen Ländern Migrierten und verteilten gratis an der Kreuzung Schönbrunner Straße/Reinprechtsdorferstraße im Schutz der Dämmerung alte Zeitungsausgaben. Den Schlachtruf "Guria, Grona!" hatten wir perfekt drauf und so wurden wir in einer Stunde unsere gesammelten Altpapierbestände los. Qualitativ eigentlich kaum ein Unterschied zu den heute angebotenen Gratis-Zeitungen ...
Heute fahre ich bis Pilgramgasse, um meinen Kunden Havas zu besuchen, mit dem mich eine unglaublich intensive menschliche und professionelle Beziehung verbindet.
Station Meidlinger Hauptstraße.
Dort war/ist das legendäre "U4". Alle Legenden des Austropop spielten und vergnügten sich dort. Auch meine langjährige On/Off-Freundin Eva war dort Stammgast. Mein halber Freundeskreis konnte sich ein Leben ohne "U4" nicht vorstellen.
Ich selbst war in meinem ganzen Leben allerhöchstens 3 bis 4 mal dort und es hat mir kein einziges Mal wirklich gefallen.
Später lebten 500 Meter entfernt meine ersten Schwiegereltern dort und seitdem verbinde ich mit dieser Gegend die Erinnerung an skurrile Erzählungen meines damaligen Schwiegervaters, der uns mit Schnurren aus seinem Leben als Taxi-Unternehmer unterhielt und mit ausgesprochen deftigen kulinarischen Attacken seiner Frau.
Schönbrunn.
Diese Station wird mir immer in besonders positiver Erinnerung bleiben. Ein paar Jahre lang markierte sie das Ziel meiner Zoo-Besuche mit meiner Tochter Lisa. Das Besuchsrecht mit Lisa nach der Scheidung von ihrer Mama war mir heilig und sie war immer sehr gern mit mir im Zoo - ich glaube das jedenfalls, denn wir waren beide sehr vorsichtig mit der kostbaren Zeit, um sie nicht durch Zerwürfnisse wegen irgendwelcher Kleinigkeiten zu verderben.
Seitdem weiß ich, wie wichtig der hundsordinäre Alltag für eine Eltern-Kind-Beziehung ist, weil nur der verhindert das Abdriften in scheinheilige "Schokoladen-Szenarien". Als Lisa dann mit 17 für vier Jahre ganz in meine damalige Familie übersiedelte, war das der Beginn einer sehr ehrlichen Erdung, die wir auch heute noch genießen.
Schönbrunn ist aber auch die Wetterscheide zu meinem heutigen glücklichen Leben. Dort traf ich am 19. Mai 2013 meine wunderbare Frau Gabi, die ein gnädiger Algorithmus von "Parship" in mein Profil geführt hat. Am Christkindlmarkt von Schönbrunn öffneten sich nach meiner Scheidung kurz vor Weihnachten 2013 meine Tränenschleusen und ich konnte in Gabis Armen endlich den Druck abbauen, der mich all die Zeit vorher wie ein blinder Passagier begleitet hatte. Wir kauften in dieser Zeit direkt bei der U-Bahn-Station unseren ersten gemeinsamen Christbaum.
Alles zusammen: Sehr viele sehr intensive Duftmarken, die an dieser U-Bahn-Station haften.
Hütteldorf.
Auch wenn der Fußball mein Leben nur marginal bestimmt: Wenn es drauf ankommt, bin ich "grün" und die Allianz-Arena ist nur ein paar Meter von der Endstation der U4 entfernt.
Apropos Allianz: Vier Jahre meines Werber-Lebens pilgerte ich zum Büroturm der Allianz (erreichbar über die U4-Station Ober St.Veit), um dort einen unserer damals strahlungsstärksten Agentur-Kunden zu besuchen. Der für Werbung zuständige Vorstand hatte die Namens-Initialen RR und genoß die Assoziationen mit der berühmten Automarke mit gerade noch tolerablem Understatement.
Wir hatten uns angefreundet, weil ich seine Arbeitsweise kannte und deshalb gerne Termine um 7 Uhr Früh annahm, um zu dieser Stunde ganz ungestört mit ihm unsere Layouts durchzugehen. Wenn dann um halb 9 seine Mitarbeiter erschienen, war alles in "trockenen Tüchern und der Drops jelutscht". RR war Deutscher und von ihm lernte ich diese Redewendungen, noch bevor mich mein Leben als Coach in deutsche Lande führte.
Hütteldorf! Das war damals vor allem jene U4-Station, von der man grade einmal 3 Minuten brauchte, um zum Gartenzaun der Agentur GGK zu kommen. Dort stand der berühmte Kreations-Pavillion, in dem ich einige meiner allerschönsten Stunden mit den besten Kreativen des Landes verbrachte. Über eine kleine geschwungene Brücke über einen kleinen Gartenteich erreichte man das berühmte Jugendstilhaus, in der der wunderbare Hans Schmid regierte, dem ich mehr verdanke, als ich in den Jahren, die ich für ihn arbeitete, erkennen konnte. Mein Abgang nach zwei Jahren im Schlaraffenland der Werbung war eine Entscheidung, mit der ich lange haderte.
Gleichzeitig haben meine zweite Frau Barbara und ich zusammengefunden, weil sie mich als Assistentin von der GGK zur BZW begleitete. Dieser Ehe verdanke ich meine wunderbaren Kinder Paul und Hannah und eine sehr respektvolle Beziehung zu Barbara, auf deren Gelingen wir beide durchaus stolz sein dürfen.
So viel ist in den letzten 45 Jahren entlang der U4 passiert.
Unter anderem habe ich in meiner Junggesellenbude in der Seuttergasse - gleich beim Nikolaitor zum Lainzer Tiergarten - 1989 die Fernsehbilder vom Fall der Berliner Mauer gesehen und vor Freude geweint, weil niemand meiner Generation damals sich vorstellen konnte, dass dieses epochale Ereignis zu unseren Lebzeiten noch stattfinden würde.
Friedensbrücke.
Drei Minuten von dieser Station wohne und arbeite ich heute.
Gabi hat im Althanpark eine Eigentumswohnung für uns gefunden und - Glück muss man haben! - nur 6 Türnummern von unserer Wohnung entfernt ist eine kleine Mietwohnung, die ich als Büro nütze. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so großartig gelebt. Nicht einmal in den tollen vier Jahren in der BBDO, die damals nur einen Steinwurf von meiner heutigen Adresse im Palais Liechtenstein logierte. Ich hatte ein Chefzimmer mit 45 Quadratmetern und 5 Meter 70 Raumhöhe mit Blick in den Park und niemals werde ich den Luxus vergessen, mit dem ich damals gesegnet war.
Und doch genoss ich meine ersten Tage im Althanpark so sehr,
dass ich oft die erste Stunde im Büro nur damit verbrachte,
glücklich vor mich hin zu schauen.
Jetzt bin ich wieder back to the roots. Und ohne Esoterik:
Wenn alles klappt, wird das wohl meine letzte Station entlang der U4 sein und bleiben. Ich wünsche es mir jedenfalls.
Aber was soll man im Jahr 2020 viel über Pläne nachdenken.
Jetzt ist es schön hier. Und es passt so.
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Marion (Samstag, 01 August 2020 21:12)
Lieber Hannes, ich les ganz einfach alles gerne von dir.