Longread.

Könnte lang werden heute.

Immerhin: Ich hab's gleich xagt. 

Ab jetzt auf eigene Gefahr. 


"Sine ira et studio." Das war der Leitgedanke des römischen Historikers Tacitus. 

"Ohne Zorn und Eifer" - so sollte Geschichtsschreibung funktionieren. 

Auch: Ohne Arschkriecherei den lebenden Herrschenden gegenüber und auch ohne Nachtreten, wenn sie (endlich) verstorben sind und man sich vor ihrer Rache nicht mehr fürchten muss. 


Eh klar, dass Tacitus selbst seinem Leitgedanken nicht folgen konnte. Sätze wie der zitierte sollten eher die Leser gewogen stimmen und Wohlwollen für das Werk erwirken. 

Nebenbemerkung: Klugscheissereien wie die obige verdanke ich meinem Lateinprofessor Dr. Josef Zerobin. Ein Misanthrop der Extraklasse. Aber didaktisch war er Spitze und wie man sieht auch durchaus nachhaltig. 


Warum fange ich überhaupt so an?

Die Antwort ist einfach: Um mich selbst vor dem Ausrasten zu schützen. Und vor dem Hyperventilieren. Und vor dem Herzrasen. Und vor dem Starrsinn, der am Horizont grinsend winkt, weil er sich darauf freut, mich in 20 oder 30 Jahren in seine Arme zu schließen. 


Schon die alten Griechen räsonierten, dass die "Jugend" nichts wert wäre und die Welt auf keinen Fall mehr lang stehen würde. Heute würde man sagen: "OK, Boomer!" Oder: Opa erzählt vom Krieg. 


Eh. Ist mir klar. Und außerdem: Ich kann nix dafür, dass ich in den Boomer-Jahren geboren wurde. Und im Krieg war ich zum Glück nie. Höchstens auf den Friedensdemos Anfang der 80er mit einem Transparent "Lieber Rotwein als Totsein."


Und doch nehme ich mir die Freiheit, dies und das seltsam zu finden. Und unangemessen. Und falsch. Und gefährlich. 

Mich stört zum Beispiel, dass die Generation der heute um die 30-Jährigen für mich so irritierend indifferent ist. Die einen finden die derzeit Regierenden cool, weil sie den Versprechungen, es würde sich endlich was ändern, geglaubt haben. Vereinzelt macht sich zwar ein gewisser Katzenjammer bei diesen Wähler:innen von 2017 und 2019 breit, aber eine tiefe Einsicht bleibt doch aus. 

Die Mehrheit bleibt in der einmal gewählten Spur und ist immer noch bereit, dafür zu kämpfen, weil sie die "anderen" für noch viel schrecklicherer halten.


Die anderen haben zwar von Anfang an gewusst, dass das nix werden wird, leiden aber vor sich hin, weil die, die sie gewählt haben, entweder keinen Plan haben oder ihren Plan verlassen haben. 


Aus professioneller Sicht und aus teilnehmender Beobachtung beunruhigt mich diese Gemengelage.

Denn die einen lernen intensiv, wie man mit ausgefeilten Techniken auch den größten Schas zurechtargumentieren kann. Während die anderen im Räucherstäbchendunst versumpern und nicht imstande sind, mehr als bittere Klage über die Wortakrobatik der anderen zu führen.

Was mir am häufigsten auffällt: Vor lauter "Wertschätzung" geht ein Zauberwort zugrunde, das so hilfreich wäre, um das zu verhindern, was man nicht will: Das "Nein". 

Viel zu viele fürchten sich davor, es einzusetzen.

Aus Sorge, aggressiv zu sein. Oder - einer der mich am meisten irritierenden Begriffe - passiv aggressiv. 

Neulich in einem Workshop erlebt:

Wir üben die "Ich-Botschaft". Ich frage: Wie geht eine Ich-Botschaft, wenn man eine Aufgabe übergeben hat und der Auftragnehmer liefert schlechte Arbeit ab? Jemand schlägt vor: "Ich bin unzufrieden." 

Ich bin begeistert und lobe die Antwort. 

Da fragt jemand: "Aber, ist das nicht passiv aggressiv?" 

...


Wenn mir was nicht passt, MUSS ich Nein sagen, sonst hört der Miss-Stand nicht auf.

"Die Fähigkeit, das Wort Nein auszusprechen, ist der erste Schritt zur Freiheit." Sagte Nicolas Chamfort, ein französischer Revolutionsdichter. Recht hat er. 

Denn Sklaven haben keine Nein-Option. 


Und so denk ich vor mich hin.

Dass wir an der Unfähigkeit Nein zu sagen, 

scheitern werden.

Auch an der Feigheit, Ja zu sagen.

Ja zur Menschlichkeit. Ja zur Großzügigkeit.

Ja zur Toleranz. Ja zum Anders-Sein.

"Jeder Mensch hat das Recht, anders zu sein." (Adorno)


Dass wir in einem Kindermärchen gefangen sind.

"Des Kaisers neue Kleider." Und dass niemand - oder zu wenige - die Schneid hat, auszurufen: 

Aber der Kaiser ist ja nackt!  


Das betrifft nicht nur die Politik. Bei weitem nicht.

Das zieht sich wie ein roter Faden durch ganz viele Lebensbereiche. Ganz besonders durch den Bereich der Arbeit. "Work-/Life-Balance". Was für ein Unwort.

Die Arbeit soll und darf doch ein Teil des Lebens sein. Was für ein seltsames Verständnis des "Lebens", wo das "Leben" erst anfängt, wenn die Arbeit vorbei ist. 


Da tummeln sich jetzt "Gurus" mit Millionen von Followern, die nichts anderes tun, als großartige Erkenntnisse von Paul Watzlawick oder Peter Drucker neu aufzupeppen. Selbstverständlich ohne Quellenangabe. Und dann werden Grund-Weisheiten wie "Die Wahrheit entsteht im Kopf des Empfängers" gehypt und millionenfach in den social media geteilt. Immer mit atemloser Würdigung der neuen Proponenten.

Könnte einem wie mir doch nur recht sein.

Ist es im Grunde ja auch.

Aber die Respektlosigkeit gegenüber dem Original ärgert mich. Es soll ja schon Minister gegeben haben, die bei ihren akademischen Arbeiten auch keinen Respekt gegenüber Original-Quellen hatten.


So mäandern wir durch die Gegend.

Und dass auf die Verfassung geschissen wird, ist den meisten wuascht. Und was Gewaltenteilung ist, ebenso. Und dass am Ende eh alle Gauner sind, ist das Totschlagargument an den Stammtischen. 

Das immerhin seit Jahrzehnten.


Ich wünsche mir so sehr eine Allianz all jener, die sich zur Menschlichkeit bekennen.

So wie früher einmal auf den Rechnern ein Kleber war: Intel inside.

So sollte es einen Batch geben für alle, die die Menschlichkeit hochhalten. "Menschlichkeit inside"


Und ich würde gerne dafür kämpfen, dass es einen virtuellen Schirm gibt, unter den sich alle, denen das etwas bedeutet stellen können.

Und dann würden alle, die das nicht wollen, eben Unmenschen sein. So einfach wäre das. 


Am Ende bleibt mir nur noch die (bittere) Erkenntnis:

Wäre ich 20 Jahre jünger, würde ich den derzeitigen Winkel-Advokaten mit dem Arsch ins Gesicht fahren.

Mit Zorn. Und mit Eifer. 

 

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