Verzeihen.

Wahrscheinlich die schwierigste Übung des Mensch-Seins.

Besonders anstrengend gegenüber Menschen, die nicht mehr leben.

Der häufig vorgebrachte und durchaus kluge Rat, Frieden mit dem inneren Bild zu machen, das man von der belastenden Person hat, "funktioniert" nicht immer und schon gar nicht automatisch.


Immerhin einigermaßen hilfreich und manchmal auch tröstlich wirksam: Die Erkenntnis, dass es zum Erkennen des eigenen Ich auch ein Du braucht. Viel präziser: Das Du als ein anderes Ich.

Nur dadurch können wir uns aus dem unrefektierten Trugbild, mit sich selbst im Reinen zu sein, lösen und befreien.

Denn das Gesetz der Polarität begleitet uns seit Ewigkeiten und lässt uns die Gesamtheit der potenziellen Wirklichkeit nur im Erkennen und manchmal auch Erleiden von Gegensätzen erfassen.

Wir (er)kennen Hell nur, weil wir auch Dunkel kennen, Warm nur, weil wir auch Kalt und Liebe nur, weil wir auch den Hass kennen.

Auf der selben Tür, vor der wir stehen, steht auf der einen Seite "Eingang" und auf der anderen "Ausgang". Die Gleichzeitigkeit dieser Eigenschaften erkennen wir nur im Hintereinander-Wahrnehmen. 

Auf diese Weise entsteht "Zeit". 

In einem solchen Mechanismus erscheint die Vergebung als Gegenstück zur Anklage und macht uns die gleichen Schwierigkeiten, wie es schon das Ertragen des Unrechts getan hat.

So unendlich schwierig dies auch sein mag: Es ist wahrscheinlich die einzige Chance, sich selbst als Mensch er-kennen und ent-wickeln zu können. 


Den Frieden mit sich selbst im Frieden mit anderen zu suchen - dieser Anspruch ist mir trotz vieler Jahre der analytischen und therapeutischen Beschäftigung mit mir erst jetzt wirklich klar geworden.

Und wenn der "Frieden" in seiner Tiefe nicht erzielbar ist, so wird wohl zumindest die Hinnahme der Perspektive des "anderen Ich" als Unterkante des Zusammenlebens reichen müssen.

Der "Verdacht, der andere Mensch könnte Recht haben" (Zitat: wahrscheinlich von Kurt Tucholsky) erscheint in diesem Licht bereits als durchaus sportliche Übung. Das "liebevolle Annehmen des Anders-Seins" (Immanuel Kant) gerät im Abglanz dieses Anspruchs zur direkten Eintrittskarte zur Heiligsprechung. 

So bleibt der Goethesche Zuruf aus dem Finale von Faust II als tröstlicher Sockel bestehen: "Wer strebend sich bemüht, den können wir erlösen." Mehr, aber auch nicht weniger, werden und sollten wir einander nicht ins Pflichtenheft schreiben.


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