"Her mit den kleinen Engländerinnen"

Heute Früh. Gurgel-Test. Das verschlafene, stoppelbärtige, tränensäckige Gesicht eines alten Mannes schaut mich aus dem Handy-Screen an, mit dem mein Gurgeln live beobachtet wird. 

Ich denk mir: Wen wir seit Neuestem bei uns übernachten lassen! Ich muss das mal mit Gabi besprechen. 

Über die schwer zumutbare Wahrheit der Selbstspiegelung hat mich ein Gedanke getröstet, den mir mein wunderbarer Freund Rosel gestern über den Wirtshaustisch geschoben hat: "Wir sehen uns selbst immer in einem gleichbleibenden Alter, auch wenn wir objektiv vor uns hin altern." (Bevor er mich jetzt korrigiert: So - nicht ganz wortwörtlich - kam seine Botschaft bei mir an.) 

Wenn das so ist, dann bin ich vor meinem inneren Auge so um die 35 bis 40. Jedenfalls noch mit (lockigem) Haar. Und das hatte ich in voller Ausstattung jedenfalls bis 37. 

Und dieser 37-Jährige erinnert sich an die Zeit, als er grade 15 war. 1973 in Ramsgate an der englischen Südostküste. So die Gegend, wo auch Margate oder Brighton sind. 

Dort verbrachte ich meinen ersten wirklich richtigen Auslandsaufenthalt. Also in einem Land, wo man nicht Deutsch spricht. Die Ferien bei meiner Tante in Karlsruhe zählten als Heimspiel. 

Und in Ramsgate hatte ich es so richtig gut.

Wohnen bei einer jungen Familie mit einem knapp einjährigen Baby. Tom war bei der Gemeinde als Beamter angestellt und fettete sein bescheidenes Gehalt durch Taxifahren in der Nacht und am Wochenende auf. Aus der Rückbank des betagten Gefährts ragte eine fürwitzige Polsterungsfeder, vor der Tom jeden Fahrgast liebevoll warnte.

Vormittags Schule, Nachmittags Tennis.

Abends: Disco

Sehr geil für einen 15-Jährigen. Und wenn es jetzt auch einige meiner Altersgenossen vor Abscheu schüttelt: Ja, ich habe geshaket zu Suzi Quattro, zu Gary Glitter, zu T-Rex, zu Mud, zu Slade.

Es war einfach nur geil. Cool. Ich weiß nimmer, wie wir das damals bezeichneten.

Und die englischen Girls waren ein sehr verführerischer Anblick, allerdings out of reach, weil streng bewacht von sehr unfreundlichen männlichen Begleitern aus der Umgebung. 

Also orientierten wir uns an unseren mitgereisten weiblichen Wesen, die ein nicht minder attraktiver Anblick waren und uns wenigstens verstanden. Wenigstens akustisch...

Und viele Herzen (meines inklusive) entflammten, viele Hormone glühten, viele Räusche mussten mühsam verdaut werden. 

Es war die erste wirklich große Freiheit.

Und erst heute weiß ich es wahrlich zu schätzen, wie freundlich wir von den "Natives" behandelt wurden, denen nur 30 Jahre vorher noch deutsche Bomben um die Ohren geflogen waren. Für uns war diese schreckliche Zeit eine andere Welt und ein Thema unserer Eltern. 

Damals sahen wir das so. 

Ein Jahr später kam ein Blockbuster in unsere Kinos. "Her mit den kleinen Engländerinnen." Ein französischer Film. Gedreht 1973. In Ramsgate.

Und die jungen französischen Gymnasiasten konnten zwar schlechter Englisch, als wir (so viel Stolz musste sein), sie erlebten aber genau die gleichen Sensationen an den gleichen Plätzen mit der gleichen Musik wie wir. 

Und ich saß im Kino, mein Herz zersprang vor Sehnsucht nach dieser unendlichen Freiheit und ich konnte schmecken, was die aßen, riechen, wo die waren und meine Beine wippten zu den gleichen Rhythmen.

Im Sommer 1974 durfte ich nochmals nach England. Dieses Mal nach Canterbury. Es sollte ein weiteres Highlight werden, an das ich mich bis heute erinnere.

Nur eines hab ich anders gemacht:

Als ich ein Jahr zuvor übellaunig und mit einer gewaltigen "Restfettn" in Linz ankam und in den kleinlichen Provinz-Mief zurückmusste, waren meine Eltern extrem sauer, wie wenig ich das Dahoam zu schätzen wusste.

Bei meiner Rückkehr aus Canterbury spielte ich eine halbwegs glaubhafte Wiedersehensfreude.

Schließlich wollte ich ein Jahr später nach Grenoble.

Aber das ist eine andere Geschichte. 

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Kommentare: 2
  • #1

    Marion (Freitag, 19 November 2021 05:51)

    Sehr schöne Kurzgeschichte

  • #2

    Karin Frank (Freitag, 19 November 2021 22:45)

    Hast mir mit deiner Erzählung gerade ein Lächeln ins Gesicht gezaubert und - neben tieferen Gedanken - viele Erinnerungen geweckt.
    Tut grad gut...danke!