Kreisky. 111

Als Mittelschüler habe ich mich an ihm abgearbeitet. Ganz besonders wegen seines unerträglichen Verhaltens gegenüber Simon Wiesenthal, bei dem ihm der spätere Bundespräsident Heinz Fischer diensteifrig assistierte. 

Zugleich wusste ich schon damals, was es für viele meiner Mitschüler bedeutete, gratis zur Schule fahren zu dürfen oder endlich neue Schulbücher zu bekommen, die nicht von Generationen vorher kaputtgelesen worden waren. (In meiner Klasse hatten wir mehrere Mitschüler, die vor der Zeit der Gratis-Schulbücher Atlanten nutzen mussten, wo die politischen Grenzen der Staaten nicht dem aktuellen Stand entsprachen.) 

Ich war der erste Schulsprecher, der auf Basis des damals hochmodernen Schulunterrichtsgesetzes gewählt worden ist (zum Glück war unser Direktor so zeitgemäß, dass er auch vorher schon Schulsprecherwahlen durchführte. Mein Vorgänger ist mein wunderbarer Freund Herbert Paulischin).


In der Ära Kreisky geschahen kleine und große Wunder.


Unser Nachbar im Stockwerk über uns war ein Forstarbeiter, der sich mit Fleiß und unglaublichem Bildungswillen in der Gewerkschaft nach oben gearbeitet hatte und 1970 zog er als Abgeordneter der SPÖ in den Nationalrat ein. Noch heute denke ich mit Dankbarkeit an seine geduldigen (und letztlich erfolgreichen) Bemühungen, bei mir eine gedankliche Gegenwelt zum konservativen Weltbild meiner Eltern zu etablieren. 


Gesamtgesellschaftlich gelang eine Durchlüftung des von reaktionärer Abgestandenheit gelähmten politischen Systems. Eine Hochblüte des Print-Journalismus und auch des (Monopol-)ORF setzte ein. 

Und entgegen den bis heute unausrottbaren Panikattacken des Bürgertums ging es wirtschaftlich tatsächlich allen im Land deutlich besser. 

Nicht einmal die elend lange Suada des Schuldenmachens zu Kreiskys Zeit (die berühmten Milliarden Schulden, die ihm weniger den Schlaf raubten, als 100.000 Arbeitslose) war real problematisch. 

Wirklich desaströs waren die Veränderungsresistenz in der verstaatlichten Industrie und die fett gepolsterten Komfortzonen der Betriebsratskaiser in den letzten Jahren seiner Ägide. 


Was im Vergleich zu heute extrem schmerzhaft auffällt, ist der heutige Mangel an politischer Perspektive in der Sozialdemokratie.

Man muss Kreisky nicht mehr erlebt haben (obwohl: schaden tut es keinesfalls), man muss nur seine eigene Biographie und jene sehr kompetenter Autoren lesen, um zu begreifen:

Noch während der Zeit der Opposition gegenüber einer absoluten ÖVP-Mehrheit arbeitete Kreisky in den zwei Jahren vor seinem ersten Wahlerfolg ein Konzept aus, das von einer großen übergeordneten Idee getragen war und in den zentralen Bereichen von Wirtschaft, Gesellschaft, Sozial-Politik von wirklichen Veränderungen durchdrungen war. 

Ob es nun die berühmten 1.400 Experten waren, oder "nur" 200, ist vollkommen egal. 

Es ging um die intellektuelle und ideologische Aufrüstung der Partei, um jederzeit imstande zu sein, Regierungsverantwortung zu übernehmen. 

NICHT, um möglichst viele Schnittmengen mit der ÖVP zu suchen, um einen Kuschelkurs einzuschlagen, sondern um eine eigenständige Alternative zu bauen, auf deren Basis man durchaus einen Konsens suchen könnte. Oder halt auch nicht. 

Das ist der fundamentale Unterschied zu heute.

Und noch einen gibt es: 

Ja, die damals noch junge Meinungsforschung wurde intensiv genützt.

Aber wiederum NICHT, um dem Volk aufs Maul zu schauen und den diffusen Mainstream in diffuse Konzepte zu gießen. Sondern ganz im Gegenteil: 

Die großen inhaltlichen Würfe entstanden in der Partei aus politischem Gestaltungswillen und erst dann wurde per Meinungsforschung der kommunikativ beste Weg gecheckt, um diese Ideen auch griffig zu verbreiten. 

Was für ein Unterschied zu heute.

Ja. Man kann sehr vieles nicht in die Gegenwart übertragen. 

Aber eines schon: Es war und bleibt ein Unsinn, die Bevölkerung zu fragen, wie sie regiert werden will.

Sie weiß es mehrheitlich einfach nicht.

Es war und bleibt eine gute Gangart, eigene Ideen aus eigenem Antrieb zu entwickeln, um dann für den Umsetzungsauftrag dieser Ideen zu werben.

Wenn von Kreisky neben all seinen realisierten Konzepten etwas bleiben sollte, dann ist es dieser Anspruch.

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