Studieren in den 80ern.

1978. 

Ich sitze mit ein paar FreundInnen im Gastgarten des Café Maximilian, direkt gegenüber dem NIG (Neues Instituts Gebäude) der Universität Wien.

Bei Melange und Mohnschnitte beklagen wir, dass uns die 68er-Bewegung vorenthalten wurde und wir „nun“ in einem sehr angepassten Szenario studieren.

Dabei ist uns vollkommen klar, dass es die 68er-Bewegung in Österreich nie gegeben hat.

Österreich 1968. Eine absolute Mehrheit der ÖVP (Österreichische Volkspartei, die Christlich-Sozialen) regiert das Land. Eine beinharte Austerity-Politik plagt das gesamte Gefüge, der als Universitätsprofessor hochrenommierte Finanzminister versucht mit Hängen und Würgen ein ausgeglichenes Budget hinzukriegen.

In der Regierung sitzen einige in der Wolle gefärbte Austrofaschisten aus der Dollfuß-Ära. Der Bundeskanzler ist ein Technologie-Fan und schart ein paar junge Assistenten um sich, von denen einer später sogar Bundespräsident wird. 

An der Wirtschaftsuni lehrt ein unverbesserlicher Faschist und Antisemit, beklatscht und bejohlt vom Ring Freiheitlicher Studenten – einer Ansammlung ewiggestriger Schmiss-Studenten. Der spätere Bundespräsident Heinz Fischer und der spätere Finanzminister Lacina (beide Sozialdemokraten) sitzen in seiner Vorlesung und schreiben mit. Die Veröffentlichung der Mitschrift verursacht Studentendemonstrationen, bei denen ein alter Mann (Kommunist) von einem rechtsradikalen Studenten erschlagen wird. Dem Professor geschieht weiter nichts, er geht ein paar Jahre später in Pension.

1968 ist in Österreich genau nichts von dem passiert, was man aus Frankfurt, Berlin, Paris in den Medien sehen konnte.

Frauen mussten damals noch eine Genehmigung ihres Ehemannes einholen, wenn sie einen Beruf ausüben oder ein Konto eröffnen wollten. 

1968. Ja, 1968. 

Der unerträgliche Reformstau hatte dann 1970 Bruno Kreisky mit einer relativen Mehrheit ausgestattet, 1971 dann mit einer absoluten, die er bis 1983 verteidigen konnte.


Trotzdem gab es in Österreich nie eine soziologische Mehrheit links der Mitte.

Kreisky hatte liberale Bürgerliche eingeladen, „ein Stück des Weges“ mit ihm zu gehen. Und es gab noch einen festen Grundstock an im besten Sinn proletarischen Menschen mit einem Klassenbewusstsein.

Erst Anfang der 70er-Jahre wurden die Kinder aus wirtschaftlich schwachen Familien an das höhere Bildungssystem herangeführt, indem es endlich das Gratis-Schulbuch und die Gratis-Schulfahrt gab und eine Grundausstattung an Stipendien.

Der „Höhepunkt“ der Aufmüpfigkeit waren Anfang der 70er-Jahre spektakuläre Aktivitäten des „Wiener Aktionismus“, als Künstler wie Brus oder Mühl im Audi Max der Wiener Uni öffentlich masturbierten und defäkierten.

Auf den Universitäten und Hochschulen gab es zwar eine aufstrebende Minderheit von Lehrenden, die eine linksliberale Haltung hatten, aber die Mehrheit war weiterhin traditionell, konservativ bis klerikal eingestellt. In der Politikwissenschaft hatte man in Wien in gewohnter großkoalitionärer Manier ein linkes und ein konservatives Institut eingerichtet. Auf der Publizistik gab es einen liebenswürdig-tollpatschigen Professor, der sich aus Angst vor den Studentenvertretern in seinem Schrank versteckte.

Eine zweite Professorin leitete die sogenannte „historische“ Abteilung, deren Zeithorizont 1938 endete.

Irgendwie war alles ein bisschen besser geworden, es gab mehr Studierende aus allen gesellschaftlichen Schichten. Was es definitiv nicht gab, war wenigstens ein Hauch von „Revolution“. 

Im April 1967 hatte Adorno einen vielbeachteten Vortrag an der Uni Wien gehalten (Über Faschismus). Davon zehrten wir auch noch Ende der 70er. Und vom Auftritt Nina Hagens im „Club 2“, dem vielbeachteten Diskussionsformat des ORF, als sie vor laufender Kamera demonstrierte, wie die Selbstbefriedigung der Frau möglichst lustvoll gelingen könnte.

Ich war am Zentralausschuss der ÖH (Österreichische Hochschülerschaft) aktiv und habe am später sehr bekannten Magazin „ÖH-Express“ mitgeschrieben. 

Am Zentralausschuss regierte eine moderat konservative Mehrheit der ÖSU (Österreichische Studenten Union – eine Vorfeldorganisation der ÖVP). Der VSStÖ (Verband sozialistischer Studenten) und die GRM (Gruppe revolutionärer Marxisten) 

waren in Statisten-Rollen und konnten Marx, Engels und Marcuse auswendig aufsagen.

Aber es gab auch die JES (Junge Europäische Studenten) – eine von Habsburg unterstützte Organisation höherer Söhne und Töchter.

Die stellten damals ernsthaft den Antrag, dass sie und ihresgleichen Anspruch auf ein Stipendium erhalten sollten, weil sie müssten ja immerhin einen BMW und eine Freundin finanzieren. Das war KEIN Scherz, die meinten das ernst!

46% der damals Studierenden arbeiteten als Werksstudenten – übten also entweder einen Beruf aus oder hatten Nebenjobs. 54% wurden von den Eltern finanziert.

So auch ich – später dann auch von meiner Großmutter.

Ich hatte immer wieder Jobs – z.B. als Klinkenputzer beim Kabelfernsehen und hatte dabei über 2500 Wiener Haushalte besucht. Aber das Geld, das ich dabei verdiente, durfte ich behalten und mein Vater bezahlte weiterhin Wohnung und Lebensunterhalt.

Ja, ich war schnell beim Studium. Die Drohung Vatis, mir den Scheck beim ersten verbummelten Semester zu streichen, war ernst gemeint.

Durch eine Proseminar-Arbeit, die mir sehr gut gelungen war, hatte ich Aufmerksamkeit bei den Lehrenden am Institut verursacht. Ich hatte es geschafft, binnen 5 Semestern alle erforderlichen Prüfungen und Zeugnisse zu erledigen, die mich zum Start meiner Dissertation berechtigten. Damit war ich einer der ersten meines Jahrgangs – wohl nur, weil ich mich ganz dem Studium hatte widmen können.

Ich weiß noch, wie stolz meine Tante Herma war, als wir zu ihrem 60er nach Karlsruhe fuhren und sie meine studentische Laufbahn kommentierte.

1981 erlitt mein Vater drei Schlaganfälle und ich hatte alle Hände voll zu tun, um die wirtschaftliche Lage meiner Familie zu sanieren. Davon völlig ausgelaugt, habe ich das Jahr 1982 komplett versemmelt. Zwei Dissertationsthemen waren den Bach runtergegangen, bis ich mich schließlich Anfang 1983 aufraffte und binnen 9 Monaten meine später preisgekrönte und von zwei Gutachtern mit „ausgezeichnet“ bewertete Dissertation fertigstellte. Ich hatte auch alle 5 Rigorosen mit Auszeichnung abgelegt und wenn ich nicht auf zwei Statistik-Prüfungen in den ersten 5 Semestern jeweils nur ein „genügend“ ausgefasst hätte, hätte ich sogar 

„sub auspiciis präsidentis“ promovieren können. 

Das Dekanat hatte mir sogar vorgeschlagen, diese beiden Prüfungen nochmals zu machen, ich hatte dazu aber weder die Zeit und schon gar nicht die finanziellen Mittel mehr...



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