Konservativ.

Meine Eltern waren konservative Antifaschisten. 

1926 bzw. 1933 geboren, haben sie mehr als genug vom Nazi-Wahnsinn mitbekommen, um immun zu werden gegen Nationalismus, Rassismus, Anti-Semitismus und jede weitere Form der Engstirnigkeit. 

Zugleich waren sie wertkonservativ und in lebenslanger Sorge, der Sozialismus oder gar der Kommunismus würde sie um ihr materielles Eigentum und - noch schlimmer - um die Meinungsfreiheit bringen. Als die KPÖ 1966 eine Wahlempfehlung für die SPÖ aussprach (und die sich nicht dagegen wehrte), waren meine Eltern wirklich panisch. 

Wie das Wahlergebnis zeigte, durchaus unbegründet.


In diesem Biotop bin ich aufgewachsen. 

Da gab es im Freundes- und Bekanntenkreis eine ganze Menge sehr gescheiter Leute, die ein achtenswertes Leben führten, hoch gebildet waren und auf beeindruckende Art diskutieren konnten. 

Das gelang ohne verbale Grobheiten, ohne Verdrehungen von Fakten und mit beachtlichem Wissen auf vielen Ebenen von Geschichte, Kunst, Kultur und Politik. 

Ich hatte Lehrer und Lehrerinnen, die sehr behende argumentieren konnten, ein breites Spektrum von Zugangsoptionen zur Wahrnehmung zeigten und trotz ihrer unübersehbaren konservativen Einstellungen neugierig waren, was die "andere Reichshälfte" so drauf hatte. 

Im damaligen Oberösterreich gab es einen Landesschulratspräsidenten, der ein Solitär an Bildung und Geisteshelligkeit war und an dessen Lippen ich als Schülervertreter hing. Es gab den Chefredakteur der Oberösterreichischen Nachrichten, der regelmäßig zitiert wurde, weil er so klar und fokussiert kommentieren konnte. Der Rektor der Linzer Kunsthochschule war in den 70ern eine internationale Größe. Das sind nur ein paar Blitzlichter aus der Provinz. 


Konservativ und Bildung waren eng miteinander verwandt. Das sah ich staunend in einer weit größeren Spielklasse, als ich begann, in Wien zu studieren. 

Der ÖVP-Politiker Jörg Mauthe brillierte mit Ideen und Konzepten, die der sehr geschickte Helmut Zilk als die seinen vermarktete und umsetzte. 

Busek trieb die SPÖ in Wien mit wohlplatzierten Geistesblitzen vor sich her. Im Parlament und in der Wissenschaft zog Heinrich Neisser eine höchst respektable Spur der Aufklärung. Die Liste der Namen könnte noch seeehhhhr viel länger dargestellt werden - für den heutigen Zweck genügen die genannten als Prototypen. 


Heute ist die ehemals konservative Partei zu einem Sammelbecken muffiger reaktionärer Agitatoren geworden, wo sich auch Universitätsprofessoren nicht zu schade sind, im Chor der Xenophoben und Misogynen mitzusingen. Dass der bürgerliche Journalismus im Sturzflug die Faszination des Diskurses mit sich gerissen hat und zum Stallburschen der Message Control degenerierte, ist eine ganz besondere Schande. 


Und als ob es die Sozialdemokratie darauf angelegt hätte, in alter betulicher großkoalitionärer Loyalität bei dieser Erosion mitzumachen, kann sie ebenfalls seit langem keine faszinierenden GedankenjongleurInnen mehr aufbieten. Es tut einem einfach in den Ohren und von dort im Hirn weh, wenn man die rhetorisch armseligen Beiträge am 1. Mai herausstolpern hört. Wenn im Parlament auf derbe Art runtergenudelte "Angriffe" nicht bestechende Inhalte, sondern vor allem grässlichen Tonfall transportieren. 


Ein oder zwei Abende in deutschen Hotelzimmern reichen, um die Qualität deutscher Debattenbeiträge als Lichtjahre über dem österreichischen Gestammel zu erleben. 


Boomer sein ist für mich immer weniger zum Begriff der altersmäßigen Ausgrenzung geworden. Es hat - auch - sehr viel mit der Erinnerung an Sternstunden inhaltlicher Höhenflüge von politisch Andersdenkenden zu tun. Diese Sternstunden haben mich motiviert, Politikwissenschaft zu studieren. 

Eine Entscheidung, die ich nie bereut habe, auf Basis der heutigen Umstände aber sicher so nicht wieder treffen würde.

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