Der Einbeinige.

Der Einbeinige auf der Mülltonne.


Vor ihm habe ich mich als kleiner Bub sehr gefürchtet. Wir wohnten damals am Stadtrand von Linz in einer Siedlung, in der viele "zugereiste" Familien aus den ehemals deutschen Gebieten eine "Neue Heimat" gefunden hatten. Und Anfang der 60er Jahre konnte man noch sehr viele Kriegsversehrte sehen. 

So auch den Einbeinigen. 


Er war ca. Ende 30 und von seinem linken Bein war nur noch ein kurzer Stummel oberhalb des Knies übriggeblieben. Seine Frau war die Hausmeisterin unseres Hauses. Er war Alkoholiker. Spätestens am frühen Nachmittag war er schwer betrunken, setzte sich auf die Mülltonne vor dem Haus, der linke Beinstummel "hing" seitlich runter und er stänkerte jeden an, der das Pech hatte, an ihm vorbei zu müssen. Auch die Kinder. Auch mich. Wir wohnten im vierten Stock und schon im Stiegenhaus hab ich ihn brüllen gehört. 


Es gab noch eine Reihe anderer Männer, die nicht mehr heil aus dem Krieg zurückgekommen waren. 

Ich sehe sie noch, wie die beidseitig Beinamputierten in speziellen Rollstühlen unterwegs waren. 

Schwarzer Stahl - wie bei einem Waffenrad - eine Lenkstange mit Klingel und handbetriebene Pedale. Oder unser Trafikant. Schwere Kopfverletzung, große Delle seitlich, manchmal seltsam in seiner Art, manchmal nicht.


Im Nachhinein betrachtet, war ein Großteil der Menschen, die Anfang der 60er-Jahre so 30 oder 40 Jahre alt waren, kriegsversehrt. Manche äußerlich, viele innerlich. Und so haben sie dann auch ihre Kinder erzogen. Meine Volksschul-Lehrerin war ein einziges pädagogisches Notstandsgebiet. Drill, Klassenkampf, Ungerechtigkeit, Launen zwischen den extremsten Enden der Skala. 


Sie hatten alle ein Weltbild, das noch vom 19. Jahrhundert geprägt war, dann von den Nazis verbogen und verdorben wurde und nun hatten sie keine Ahnung, was richtig oder falsch war. 

Dann im Zweifel lieber das Falsche tun und darauf hoffen, es wird schon nicht so schlimm ausgehen. 

Wir hatten ja sogar den Krieg überlebt, was soll nun noch Schlimmeres kommen? Mühselige und widerwillige Anpassungen an Demokratie, freie Meinung, mikroskopische Spurenelemente von Toleranz wurden durch vollautomatische Waschmaschinen, Fernsehen und Urlaube in Jesolo abgemildert und belohnt. 

Trotzdem: Amputierte, Kranke, Beschädigte. 

Vieles konnte und wollte aus den verbogenen Seelen nicht weichen. 


Dann auch noch die Kinder, die so anders waren oder sein wollten, als die Eltern. Und die direkt und indirekt einen ganzen Haufen jener Scheiße übernahmen, den sie doch instinktiv ablehnten. Aber immerhin: Demokratie und Farbfernsehen gab es ja doch. 

Und das wunderbare Überlegenheits-Gefühl gegenüber jenen, die im "Osten" lebten. Ohne Demokratie, ohne Autos mit Heckscheibenheizung, ohne Südfrüchte, ohne Jesolo. 

Mit Glück hatten die schwarzes Meer oder Plattensee und schlechtes Essen. Die hatten - je nach Land - seit Anfang der 30er oder spätestens seit dem Kriegsende keine Demokratie mehr gesehen. Keine Wahlen, die geheim waren und frei. Keine Auswahl. Statt dessen Zensur und Spitzelwesen. Kleine Kinder, die in der Grundschule nach dem Aussehen der Fernseh-Uhr gefragt wurden, um herauszufinden, ob die Eltern West-Fernsehen sahen. 

Ausländer aus Afrika oder Vietnam, die schon damals verachtet und diskriminiert wurden. 

Und genauso viele Kriegsversehrte wie im Westen. Äußerlich und innerlich. 


In den Nuller-Jahren des 21. Jahrhunderts habe ich dann in Deutschland mit vielen Menschen Kontakt bekommen, die knapp 40 Jahre waren. Vielen ging der Mauerfall am Arsch vorbei. Sie sahen die Solidaritätsabgabe am Lohnzettel, hatten Kollegen aus dem Osten, die sie als kleinkariert und engstirnig empfanden und wussten nicht, wofür das alles gut gewesen sein sollte. 

Amputierte. Auf beiden Seiten. Immer noch.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0