Ich fühle mich, als hätte man mich mit einem Fallschirm über einem mir völlig unbekannten Land abgeworfen. So fremd ist mir die Gegenwart.
Als Boomer lebe ich mit dem wunderbaren Gefühl, zur glücklichsten Generation zu gehören, die je gelebt hat. Die äußerlichen Kriegsschäden waren beseitigt, als ich geboren wurde. Die innerlichen meiner Eltern und die ihrer Generation waren zwar noch existent und ihre seelischen Einschränkungen haben Schäden bei mir angerichtet.
Aber es ging aufwärts. Alles. Überall. Jeden Tag. Jedes Jahr.
Disclaimer: Es ging aufwärts für Menschen, die in unseren Breitengraden lebten.
Ich weiß natürlich, dass der Kolonialismus seine blutigen Spuren immer noch zog, dass der Rassismus immer noch grauenhaft war und dass der Sexismus immer noch nicht überwunden war.
Ich weiß das alles. Bin ja nicht deppat.
Aber ich schreibe jetzt von mir und gönne mir den Luxus, auf meinem Blog nicht ständig das ganze System im Auge behalten zu müssen.
Ich habe Jahrzehnte genossen, ohne zu ahnen, welchen unglaublichen Genuss ich mir da grade reinzog. Es war alles so selbstverständlich. Die Demokratie war gesetzt - als ständiges Grundrauschen. Die Gesundheitsversorgung wurde immer besser und effektiver. Das soziale Netz hielt. Mit einer AHS-Matura konnte man noch (!) einen Beruf ergreifen. Ein HTL-Ingenieur (m/w/d) war "jemand". Ich hatte noch Sex, ohne an Aids denken zu müssen.
Die Musik war tanzbar und hatte Melodien, die man im Ohr behielt.
Ich habe in meiner Erziehung gelernt, dass man einer Dame die Autotür aufhält, ihr in den Mantel rein- und raushilft, dass man Briefe nicht mit "Ich" anfängt. Ich habe noch ordentliche Orthographie gelernt und Foto mit Ph geschrieben.
Auch heute noch möchte ich einer Frau, die ich kenne, sagen dürfen, dass sie grade verdammt gut aussieht, ohne befürchten zu müssen, dass ich sie damit auf ihr "Äußeres" reduziere.
Mein ganzes Leben lang habe ich nie nach Geschlechtern unterschieden. Auch nicht nach Rassen, sexuellen Orientierungen, Hautfarben, Alter, Herkunft. Nur nach Ethik und Moral. Arschlöcher - egal welcher Kategorie - habe ich so gut es ging, gemieden.
Wenn ich heute in der Bim sitze, beschleicht mich Panik.
Jede/r Dritte wählt die FPÖ. Und wählt damit die inhumanste Partei, die seit 1945 im Parlament vertreten ist und auf die Demokratie scheißt. So sehr, dass sie die Demokratie mit ihren eigenen Prinzipien zu Fall bringen will.
Wenn ich parallel dazu feststelle, wie fahrlässig wuascht das den "anderen" ist, mit welcher Angstlust die großteils abhängigen Medien den Kickl herbeischreiben - die selben Journis, die dem Wunderwuzzi Kurz auf den Leim gegangen sind - mit welch erbärmlichem Bildungsniveau die Roßtäuscher spekulieren und recht behalten, fühle ich mich in einem richtig schlecht gemachten dystopischen Schundfilm. Der den Nachteil hat, die Wirklichkeit abzubilden.
Dann träume ich anstrengend. Ich träume, meinen Beruf von vor 30 Jahren auszuüben, den Spaß, den ich damals hatte, wiederfinden zu wollen und mit Menschen und Strukturen aus der Gegenwart zusammenzuprallen. Dann wache ich auf und bin einfach nur müde.
Ich denke mir: Wie gut, dass mir noch 20 Jahre bleiben. Nur noch.
Die Vorstellung, in dieser absurden Dystopie noch 40 oder 50 Jahre verbringen zu müssen, macht mir Angst. Und dann denke ich an meine Enkel-Wanzen und erschrecke, weil die haben noch 80 Jahre vor sich. Mindestens.
Nein, ich bin nicht der Leiter der Hauptabteilung "Kulturpessimismus". Ich wäre viel lieber die rechte Hand des Chefs des Ministeriums für Glück und Zuversicht. Und würde jeden Tag nichts anderes tun, als Weichen zu stellen für Fairness, Gerechtigkeit, Liebe, Gleichheit, Frieden, Geborgenheit.
Immerhin:
Dort, wo ich mich jetzt aufhalte, kann ich das tun. Nur dort.
Und dann schließe ich die Augen ganz fest und wünsche mir bessere Träume.
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Othmar Hill (Montag, 20 November 2023 09:41)
Ach Hannes, Du sprichst mir aus der Seele…
Karin Frank (Dienstag, 21 November 2023 00:19)
Lieber Hannes, ich kann deine Gedanken und Gefühle so gut nachvollziehen. Es tut grad gut, deine Worte zu lesen und damit zu wissen, nicht alleine zu sein.
Schön, dass es dich gibt
Thomas Liedl (Dienstag, 28 November 2023 15:30)
Brillant lieber Hannes, einfach brillant!
Ist ja zum Glück nur ein übler Traum, oder?
Christian Sadil (Sonntag, 03 Dezember 2023 10:08)
Ja. So ist es. So war es ... und es ist unsere Chance, unser unfassbares Glück zu genießen, solange uns noch irgendetwas möglich ist
love!