Sehnsucht.

Natürlich war "früher" nicht alles besser.

Und wann ist eigentlich "früher"?

Für einen wie mich hauptsächlich die Zeit zwischen Mitte der 70er und Ende der 90er Jahre des 

20. Jahrhunderts. 

Der medizinische Standard dieser Zeit hätte mich mit größter Wahrscheinlichkeit nicht von meinem Vorhofflimmern befreit (es wäre jedenfalls knapp geworden) oder mir meine schmerzfreie Beweglichkeit wiedergegeben - bei dem Desaster in meiner Lendenwirbelsäule, das nun hoffentlich wirklich seinem nachhaltigen Ende zugeht.


Und doch hab ich Sehnsucht. 

Zuerst einmal nach meiner Omi mütterlicherseits und nach meinem Opi väterlicherseits. Mit ihnen würde ich sooo gerne reden. Und sie fragen, wie ich mit der aktuellen Zeit umgehen soll. 

Die Omi, die es als Frau so weit gebracht hat und sich in der Baubranche gegen meterdickes Testosteron durchsetzen konnte, würde sehr genau wissen, worauf es bei der Geschlechter-Gleichberechtigung vorrangig ankommt.

Und der Opi, der in 5 Isonzo-Schlachten gekämpft hat und später von den Nazis in Gestapo-Haft geworfen wurde, würde schon wissen, wie man mit den Faschisten richtig umgeht. 

Einen Spaziergang im Augarten hätt ich gern mit den beiden. Und dann noch eine Jause im "Sperling's". 

Man will ja nicht unverschämt dem Schicksal gegenüber sein.


Ich hab Sehnsucht nach der Gewissheit, es würde jedes Jahr alles noch besser werden, als es grade ist. Und ich wünsch mir die Zeit wieder, als der Neid und die Gier nicht so grausige Lebensmotive waren, weil die meisten gut spüren konnten, dass sie es für sich gut richten würden können. 

Natürlich waren die "Auslenda" schon in den 70ern und 80ern die Tschuschen und sie hausten in erbärmlichen Substandard-Wohnungen und es ist auch heute noch eine Affenschande, wie die "Einheimischen" mit ihnen umgegangen sind. 

Aber die gesamte Gesellschaft war nicht so unerträglich von dieser widerlichen Schwarte Hass und Missgunst durchzogen, die einem heute jeden potenziellen Kontakt mit Menschen, die man nicht kennt, a priori einmal verleidet und verdächtig macht. 


Jemand schreibt, er würde die kommenden drei schiachen Monate im Süden verbringen und prompt kriegt er von einem wildfremden Moralisierer einen Kommentar reingekübelt, dass der Reisende mit der "Flugscham" wohl nicht so sehr auf gutem Fuß stünde. 

Eine bittere Geschichte erscheint in einer Zeitung: Ein österreichischer Staatsbürger hätte in kurzer Zeit 20 Frauen belästigt bzw. vergewaltigt. Und schon wird dieser Unstand in einem Kommentar auf den potenziellen Migrationshintergrund des Kriminellen zurückgeführt. 


Wir finden nimmer zsamm. 

Der Superkleber, der uns zusammenhält, 

ist die Mieselsucht. 

Man möchte sich gar nicht vorstellen, wie dieser elende Haufen von Menschen mit derselben Nationalität mit einer substanziellen Krise zurechtkäme. Dabei ist Covid noch nicht einmal endgültig vorbei und die nächste Nationalratswahl wird eine abgezählte Schwurbler-Erhebung - aufgehetzt von den Faschisten, die mittlerweile frei von jeder Scham und Zurückhaltung geworden sind. 


Nein. 

Ich will nicht in die Zeitmaschine und zurückreisen.   

Ich will einfach wieder U-Bahn-Fahren und mir nicht denken müssen: Statistisch gesehen ist jede/r Dritte im Waggon ein Faschist. 

So ist es jetzt geworden. Und so ist es schlecht. 


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