Eineinhalb Stunden Spaziergang.
Zügig. Ohne Pause. Ohne Schmerzen.
Zwei Beobachtungen.
Die scheinbar unendliche Weite in allen Richtungen. Durchatmen.
Und - mit dem Blick nach vorne - wieder einmal die Bestätigung: Es ist besser, ein Ziel im Auge zu haben, damit sich der Weg daraus ergibt. Fühlt sich gut an.
Viele Gedanken.
Ganz unbekümmert und unbelastet.
Zurückschauen sine ira et studio. Auch gut.
Empathisch ins eigene Leben schauen. Ohne sich selbst als Feind des eigenen Schicksals anzuklagen.
Auch ohne in der Selbstgefälligkeit zu suhlen.
Lehrling sein. Selbsterkenntnis.
Mich wundern, wie hoffährtig ich mal sein konnte.
Und wie sehr mich diese Gotteslästerung trotzdem vor Schlimmem bewahrt hat.
Vor über 20 Jahren hat mich ein ernstzunehmender Freund angesprochen und mir auftragsgemäß ein Nationalratsmandat der SPÖ angeboten. Ich habe geantwortet: "Unter einem Staatssekretariat mach ichs nicht." Diese unfassbare Arroganz hat mich gerettet. Natürlich haben sich die Auftraggeber meines Freundes gefragt, was ich im Essen hatte und natürlich war danach keine Rede mehr von gar nix. So hab ich mir fast 20 Jahre Vorhofflimmern erspart. Das hab ich mir erst mit dem Herrn Kurz eingetreten und bin es mittlerweile auch wieder losgeworden.
Ganz ohne seine - nicht rechtskräftige - Verurteilung.
Andere Anliegen treten in den Vordergrund.
Zum Beispiel die Aufklärung. Seit über 45 Jahren mein ethisches Grundrauschen und nun zu großer Lautstärke erwacht, weil so in Gefahr und so schlecht behandelt. Von der Wokeness genauso, wie von den Faschisten. Was für eine absurde Allianz gegen die Kraft der Vernunft.
Es drängt und gärt in mir. Seit einigen Monaten schreib ich anfallsartig immer wieder ein paar Seiten für meine Streitschrift. Und dann liegt das Ding wieder ab. Und das Kant-Jahr zieht ins Land und gibt mir sogar einen Tag extra, den ich ungenutzt verstreichen ließ. Aber heute schreib ich wieder was.
Praktischerweise über Kant und unter fünf Seiten geb ichs nicht. (Wer jemals einen längeren Text geschrieben hat, weiß, dass fünf Seiten an einem Tag gar nicht so wenig sind.)
Beim Spazierengehen schickt mir meine Tochter Lisa eine Nachricht. Weil sie weiß, was mich beschäftigt.
Ich liebe diese Lebenszeichen. Ich liebe meine Kinder. Manchmal weiß ich gar nicht, wo ich diese Liebe verstauen soll und doch findet sich immer noch ein Platzerl in mir drin, wo ich sie aufbewahren kann, um sie dann für die Adressat*innen verkraftbar loszuschicken.
Beim Spazieren sehe ich einen Mann, der mit zwei Beinprothesen und nur mehr symbolisch gestützt von zwei Krücken über die Wiese geht. Gestern hab ich ihm schon gesagt, wie sehr ich ihn bewundere und er hat gelächelt, und geantwortet: "Ich gebe mein Bestes." Heute sind seine Söhne an seiner Seite und wenn man nicht wüsste, was unter den Hosenröhren des Mannes ist, würde man gar nichts merken. Ich weiß auch nicht warum, aber dieser Mann berührt mich, seit ich ihn das erste Mal gesehen habe.
Vielleicht ist es das Glücksgefühl eines Nicht-Pharisäers, dass ich meine zwei Original-Haxen noch an mir dran habe und der Schmerz aus ihnen ausgezogen ist.
Vielleicht hat es auch mit einem anderen Thema zu tun. Schon lange bin ich fest davon überzeugt, dass es schlecht ist, sich ein Leben lang um Opferausweise zu bemühen, die bestätigen sollen, wie fremdbestimmt man die Weichenstellungen anderer im eigenen Leben ausbaden muss.
Ich bin nun fast so alt wie meine Eltern, als sie gestorben sind und erinnere mich genau, wie schwer mir ein liebevoller Abschied gefallen ist. Und jetzt habe ich ab und zu sehr verständnisvolle Momente, wenn ich hinter ihrer unfassbaren Unbeholfenheit Blitzlichter des verzweifelten Bemühens erkenne.
Das ändert nichts an den zahllosen schrecklichen Erlebnissen mit ihnen, lässt aber die spärlichen Augenblicke der Wärme heller strahlen und deren Abglanz leuchtet auch in sehr finstere Ecken hinein.
Ich hab auch meinen inneren Frieden gemacht mit dem Arzt, der mich bei meiner ersten OP im
Februar 23 so katastrophal verpfuscht hat, dass mich seine Fehler ein ganzes Jahr meines Lebens gekostet haben. Und heute denk ich mir:
A scho wos - 1 Jahr und jetzt flaniere ich lässig durch die burgenländische Weite.
Und zugleich brandet eine Welle der Liebe durch mich, wenn ich an meine wunderbare einzigartige Frau denke, die mich in all der Zeit ertragen hat.
Mich und meine schmerzverzerrten Launen. Und den abgesagten Urlaub. Und die Angst. Und den Zorn auf einfach alles. Und sie ist an meiner Seite geblieben und hat mir einen Rollator besorgt. Und ist neben mir auf den Parkbänken im Augarten gesessen, als ich vier Pausen brauchte, um eine Runde zu gehen. Und einmal, als ich im AKH besonders übellaunig war, hat sie einfach ihren Kopf auf meine Brust gelegt und wir haben gemeinsam geatmet, bis es wieder besser war. So viele materiellen Reichtümer können mir 10 Lotto-Jackpots nicht verschaffen, wie dieser Augenblick der Nähe und der Zusammengehörigkeit.
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Andreas (Samstag, 09 März 2024 21:30)
Große Liebe ♥️