Leseprobe aus KLARTEXT.

Aufklärung.


An den Beginn meiner gedanklichen Reise durch eine der großartigsten Errungenschaften menschlichen Geistes – die Aufklärung – möchte, nein: muss ich eine Er-Klärung stellen. 

Nichts wäre anmaßender, als sich der Hybris hinzugeben, auch nur annähernd erschöpfend eine solche Reise zu unternehmen, ohne das vorhersehbare Scheitern zerknirscht einzukalkulieren, nicht einmal ansatzweise alle Weiten und Tiefen dieses lichtvollen Landes durchschreiten zu können.  

Statt dessen will ich meine höchstpersönliche intellektuelle und emotionale Zuwendung zur Aufklärung als sich nie vollendende Grundorientierung darstellen und diese Darstellung auch als meine Triebfeder für meinen Widerstand gegen aus meiner Sicht überbordende Bemühungen all jener Haltungen und Verhaltensweisen positionieren, die man gemeinhin als „woke“ bezeichnet. 


Es ist noch nicht lange her, da kippte mein latentes und schwer zu beschreibendes Unbehagen in manifesten Zorn, als mich jemand, der mich wirklich besser hätte kennen sollen, (wahrscheinlich unabsichtlich) in direkten Zusammenhang mit einer Kritik an der Aufklärung stellte. Diese Kritik war so derartig grob und armselig (die Aufklärung hätte außer für den weißen, privilegierten Mann für niemanden Vorteile gebracht), dass ich die ursprüngliche Absicht meines Buchs neu orientieren wollte.


Schlagartig waren Spurenelemente und tragende Säulen jenes Weltbildes an die Oberfläche gedrängt, das mich seit mindestens 45 Jahren als innere Leitplanken begleitet und mir auch als strenge Maßstäbe gegen das eigene Denken und Handeln regelmäßig schwere Prüfungen auferlegt.

Als jemand, der sich seit seiner Kindheit (tatsächlich: seit der Kindheit!) mit der Beobachtung politischer und sozialer Gegebenheiten beschäftigt, habe ich eine durchaus lange Expedition durch das weite Land ideologischer Orientierungen hinter mir. Von der elterlich beeinflussten bürgerlich-konservativen Weltsicht hin zu einer radikalen linken Prinzipientreue, weiter ins grün-alternative Lager und schließlich – seit gut 35 Jahren in ein links-liberales Feld, auf dem ich mich loyal und leidend aufhalte. In all den Jahren blieb ein in meinem Innersten immer verlässlich klingendes Grundrauschen erhalten: 


Die tiefe Überzeugung, dass das individuelle und gesamtgesellschaftliche Zusammenleben am besten funktioniert, wenn sich eine überwiegende Mehrheit der Menschen von den Grundlagen der Aufklärung inspirieren lässt. Auch wenn diese Mehrheit nicht einmal weiß, was Aufklärung überhaupt ist. In einem bitteren Moment des Zorns über populistische Exzesse prekär gebildeter Politiker*innen habe ich mich einmal zum essigsauren Kommentar hinreißen lassen, dass eben diese Politiker*innen die Aufklärung für einen Teil des Sexualkunde-Unterrichts und Kant für eine Wurstsorte halten.


Kants kategorischer Imperativ strahlt hell am Himmel: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ und musste schon zu Lebzeiten von seinem Autor gegen die küchenphilosophische Vereinfachung „Was du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu“ in Schutz genommen werden: „Das kann kein allgemeines Gesetz sein, denn es enthält nicht den Grund der Pflichten gegen sich selbst, nicht der Liebespflichten gegen andere…“ 


Wie schön wäre es, wenn der auf zwei lateinischen Vokabeln ruhende elementare Grundsatz der Aufklärung eine ebenso breite Alltagsrelevanz hätte: „Sapere aude!“. Habe den Mut, Dich Deines Verstandes zu bedienen. 

Aus qualvoll langer Selbst-Beobachtung weiß ich, wie schwer dieser Anspruch zu erfüllen ist. In viereinhalb Jahren Psychoanalyse und – seit ich als Coach arbeite – monatlicher Supervision habe ich unter großartiger Begleitung hochprofessioneller Expert*innen gelernt, wie schwer es ist, emotionale spontane Ausschläge auf dem Befindlichkeits-Radar durch das Sieb der Vernunft laufen zu lassen. In der bewundernden Beobachtung meines geliebten Schwiegervaters habe ich für diese hohe Kunst für mich den Begriff der „Überwindung der Herz-/Hirn-Schranke“ gefunden. 

Gleichzeitig weiß ich – aus der Selbst- und Fremdbeobachtung – wie unendlich wertvoll es ist, den Anschluss an die eigenen Emotionen herzustellen und es zulassen zu können, diesen tiefsitzenden Gefühlen ihren berechtigten Platz in der zwischenmenschlichen Kommunikation zu gönnen. 

Eine lange Reihe sehr kluger Menschen hat dafür die Schule der „Gewaltfreien Kommunikation“ entwickelt, deren leidenschaftlicher Proponent ich bin. 


Nie werde ich jene berührenden Momente vergessen, die entstanden, als bis zur Starre erhärtete Klient*innen den Zauber einer robust geerdeten Ich-Botschaft entdeckten und endlich die Gewissheit entwickeln konnten, ihre Empfindungen und Bedürfnisse zum Ausdruck bringen zu können, ohne die Empfänger*innen dieser Botschaften als eigenständige Personen zu verletzen.

Der Segen der Aufklärung erschließt sich – auf eine gerade noch akzeptable Kürze verdichtet – durch die Nutzung der Vernunft, um einen grundlegenden gedanklichen Zugang freizusetzen:

Entspricht das, was ich denke, tatsächlich einer vernünftigen Abwägung UND: zu welchen Schlüssen würde ein anderer Mensch kommen, der mit seinen Wahrnehmungs- und Analyse-Organen den gleichen Sachverhalt betrachtet?


Aus dieser realen und/oder fiktiven Gegenüberstellung entsteht die grundsätzliche Bereitschaft zum Diskurs. Jürgen Habermas bezeichnet den Diskurs als „Schauplatz kommunikativer Rationalität“. Ein argumentativer Dialog, in dem über die Wahrheit von Behauptungen und die Legitimität von Normen gesprochen wird. Was jeweils als vernünftig gilt, ist die intersubjektive, von allen Teilnehmenden einer Gemeinschaft anerkannte Wahrheit. 

Es ist für mich ein Leichtes, meine eigene innere Ordnung an der von Habermas zu orientieren und deshalb halte ich es im Szenario einer sich exponentiell ausdehnenden Vielfalt von Wahrnehmungen für unverzichtbar, alles zu vermeiden, was eine Polarisierung von Meinungen und Verhaltensweisen fördert. Oder – positiv formuliert: Alles zu tun, was die Suche nach Schnittmengen fördert und Verhaltensweisen unterstützt, die eine Mehrheit der Menschen als vernünftig einstufen kann.


Jeder Mensch, der auch nur ein paar Augenblicke in der Gesellschaft anderer Menschen verbracht hat, wird zustimmen, dass der Schützengraben der Polarität schneller gegraben und besiedelt wird, als die mühsame und selbstüberwindende Suche nach Gemeinsamkeiten gelingen kann.

Dieses Streben nach Erhellung, gegenseitig gesicherter Würde und nach einer Grundhaltung, die im zwischenmenschlichen Austausch nicht das Bedürfnis nach Sieg oder Niederlage sucht, sondern das Entdecken neuer Erkenntnisse (schlicht: Zuhören statt Besiegen) ist aus meiner Sicht die elementare intellektuelle und humanistische Essenz der Aufklärung und ihr anspruchsvoller Leitgedanke für ein Zusammenleben in Würde und Freiheit. Oder, wie es Kant, dem man gerne eine schwer verständliche und komplexe Sprache unterstellt, so im positivsten Sinne schlicht auf den Punkt bringt: 

„Toleranz ist das liebevolle Annehmen des Anders-Seins.“

Um genau darum geht es mir.

Um eine Grundhaltung, die sich an Gerechtigkeit und nicht an Rache orientiert.

Die das Wach-Sein und nicht das Wächter-Tum als Alltagsmodus hochhält.

Die den Anspruch an das Ich erhebt, das eigene Handeln mit guten Absichten zu unterlegen, die möglichst vielen Mitmenschen nützlich sind.

Die von der Zuversicht lebt, auch der andere Mensch handelt mit guten Absichten.

Die den Verdacht zulässt, der andere Mensch könnte recht haben.

Die eine historische Wahrheit akzeptiert: Dass der menschliche Fortschritt durch Kollaboration und nicht durch Konfrontation gefördert wird – trotz des Kalenderspruchs, der Krieg wäre der Vater aller Dinge.

Die jener wunderbaren Erkenntnis folgt, die nur und ausschließlich aus einer aufgeklärten Weltsicht entstehen konnte: Dass Lernen nicht das Ansammeln neuen Wissens ist, sondern die gemeinsame Entwicklung neuer Fähigkeiten bedeutet. (Peter Senge)


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Kommentare: 1
  • #1

    Markus Tripolt (Dienstag, 07 Mai 2024 17:29)

    Lieber Hannes!
    Eine wunderbare Einleitung zu deinem Buch, dass ich gerne lesenmoechte. Wo und wie ist es zu erwerben?

    Ich wuensche dir viele LeserInnen!

    Markus