„Ein Kompromiss ist die Lösung eines Konfliktes durch beiderseitigen Verzicht auf Teile der jeweils gestellten Forderungen. Die Verhandlungspartner gehen aufeinander zu. Sie verlassen die eigene Position und bewegen sich auf eine neue gemeinsame Position. Ziel ist ein gemeinsames Ergebnis, auf das sie sich einigen. Der Kompromiss ist eine vernünftige Art, widersprüchliche Interessen auszugleichen. Er lebt von der Achtung der gegnerischen Positionen und gehört zum Wesen der Demokratie.“ (Wikipedia)
Im Verlauf der bisher 20 Jahre meiner Arbeit als Wirtschafts-Coach fühle ich mich häufig wie ein Wanderprediger, wenn ich darauf verweise, dass der „Kompromiss“ zu Unrecht als „faule“ Lösung verunglimpft wird. Tatsächlich hat der schlampige Sprachgebrauch den Kompromiss viel von seinem Renommee gekostet.
In Österreich wurden schon in den 50ern und 60ern des vergangenen Jahrhunderts Kuhhändel fälschlich als Kompromisse bezeichnet: Die „Roten“ wollten den Außenminister und die „Schwarzen“ einen höheren Milchpreis. Dieses Zusammenklemmen sachlich fremder Faktoren nennt man Junktim. Das ist aber kein Kompromiss.
Ein Kompromiss wohnt innerhalb des gleichen Themas und den unterschiedlichen Zugängen zur Problemlösung. Er liegt auf dem Weg zur Integration und keinesfalls auf den Richtungspfeilen der Unterdrückung oder der Unterwerfung.
Die Arbeit am Kompromiss ist bedeutend aufwändiger und mit mehr Nerveneinsatz und Hirnschmalz verbunden, als der vermeintlich schnelle Sieg über die Interessen des Gegners.
Die Belohnung: Saubere Kompromisse mit dem Interessensausgleich innerhalb desselben Themas – oft verbunden mit dem Sprung über den eigenen Schatten – halten erheblich länger, als die niemandem abseits des Verhandlungstischs vermittelbaren Kuhhändel.
Wenn diese Tugend schon bisher eher die Ausnahme geblieben ist: Jetzt scheint sie vollkommen in der Dunkelheit der Ignoranz verschwunden zu sein.
Das Streben nach Ausgleich, das Bemühen um gemeinsame Handlungsfähigkeit, das Schwitzen in der Anstrengung beim Überwinden der EIGENEN Barrieren – all das hat an Attraktivität, an Leiden-Schaft, an humanem Ehrgeiz so drastisch verloren, dass seine Verfolgung fast schon wie sinnloser Aufwand wirkt.
Vielleicht hat all das auch mit der Dominanz digitaler Tools und Prozesse zu tun, wo es so unbeugsam um Ja oder Nein, Null oder Eins, Entweder/Oder geht und kaum mehr um das so lösungsorientierte Gleitmittel des Sowohl/Als auch.
Der große Heinz von Foerster kommt mir in den Sinn und sein Leitgedanke:
„Handle so, dass die Zahl Deiner Wahlmöglichkeiten bei jedem Schritt, den Du setzt, zunimmt.“ Was ist daraus geworden? Wir fokussieren beinahe krankhaft auf das Zuspitzen, das Abtrennen, das Verengen von Optionen, anstatt uns regelmäßig das Durchatmen mittels Öffnung in wenigstens Minimal-/Maximal-/Alternativ-Ziel zu gönnen.
Vielleicht haben die Boomer und die GenX den nachfolgenden Generationen auch zu wenig vorgelebt, wie lebenswichtig es ist, Raum für Eskalations-Stufen zu lassen, anstatt von Anfang an auf die vermeintlich krasseste Option zuzusteuern, die eben keine Kompromisse mehr zulässt.
Das äußert sich schon in der Sprache, wenn eine Kränkung sofort und aus der Hüfte als „Trauma“ stigmatisiert oder eine klare Konfrontation mit Fakten als „Erpressung“ gebrandmarkt wird.
Wenn der sprachliche Eskalations-Regler in Sekundenschnelle auf den oberen Anschlag gedreht wird, bleibt kein Spielraum mehr, um Nachgeben zu können, um Luft zum Atmen zu holen und um einen kleinen Schritt zur Seite zu gehen – weil seitlich gähnt bereits der Abgrund der Verbohrtheit.
Dabei gibt es doch die wunderbaren Blaupausen,
die uns allen weiterhelfen könnten, schon: Die Diskursethik von Habermas (in der Tradition von Kant), in der in einem herrschaftsfreien Dialog die Folgen und Wirkungen der Normen für alle Betroffenen berücksichtigt werden.
In einem Diskurs ist niemand besser, als die andere Person und alle dürfen mit den gleichen Chancen Fragen und Thesen aufstellen.
Oder das Poppersche Toleranz-Paradoxon, mit dem das Ende der Toleranz gegenüber der Intoleranz klargestellt wird, damit wir in einer freien und offenen Gesellschaft leben können.
Oder – im Kant-Jahr sei es erlaubt – der kategorische Imperativ: Handle so, dass die Maxime Deines eigenen Handelns zu einer allgemeinen Gesetzgebung werden könnte. Und eben nicht: Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Das hat der alte Immanuel schon zu Lebzeiten zurückgewiesen, weil es die Liebespflichten gegenüber sich selbst und anderen außer Acht lässt.
So viel wäre, nein: IST zu tun, damit wir wenigstens dorthin zurückfinden, wo wir schon einmal waren. Und nein: Das ist kein Anbeten der ausgeglühten Asche, sondern das Schüren eines Feuers, für das Abermillionen von Menschen gelitten haben und gestorben sind, weil sie nichts anderes wollten als Humanismus, Demokratie und Aufklärung.
Ohne den Kompromiss als Schattensprung, als aufeinander Zugehen, als das berühmte „Geben, um etwas zu gewinnen“ und zugleich ohne die unbeugsame Härte gegenüber allen, die diesen Prozess des Interessensausgleichs ablehnen und torpedieren, werden wir mit beklemmender Geschwindigkeit im Treibsand der Diktatur untergehen. Wieder einmal.
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Eike Rojahn (Mittwoch, 29 Mai 2024 18:52)
Hoch lebe der Kompromiss! Und Du weißt wie schwer mir selbst das fällt, Hannes. Danke für das Plädoyer. �