Vati.

Übermorgen hat mein Vater seinen 98. Geburtstag. Er ist mit 71 Jahren gestorben.
Die Art, wie er lebte und offenbar auch nicht leben wollte, hat ihn viele Jahre gekostet,
die er nun schon nicht mehr bei uns ist.

Vor ein paar Jahren hatte ich wieder einmal über ihn geschrieben und da hat sich eine Verwandte, die vier Jahre nach seinem Tod geboren wurde, bei mir beschwert, wie ich solche Behauptungen über ihn aufstellen konnte. Ich hatte mir damals einerseits solche Zurufe verbeten. Andererseits aber auch seitdem nichts mehr über ihn geschrieben. 


Heute beende ich diese selbstverordnete Funkstille.
Weil es mein Vater und meine Sicht auf ihn ist und diese Wahrnehmung ganz und gar von vielen Jahren der Reflexion geprägt ist. Vor allem aber auch, weil ich selbst Vater bin und ich mir die Freiheit gönne, mich selbst an seinem Referenzrahmen zu prüfen.

Eine der wichtigsten Erinnerungen an ihn ist kein Zitat, das er selbst als Formulierung geprägt hätte, sondern eine Erkenntnis, die mir durch ihn möglich geworden ist: Eleganz ist keine Frage der Mode, sondern der Haltung. Wer zu sich selbst stehen kann, wird immer eine im besten Wortsinn "elegante" Aura ausstrahlen. Wer den inneren (Zusammen)Halt verloren hat, wird früher oder später einen gebrochenen Eindruck vermitteln und sogar bei formaler äußerer "Ordnung" devastiert wirken. 


Vati hat mir beide Versionen seiner selbst gezeigt und mir die finale Zerstörung seiner Aura als ständige Mahnung hinterlassen.


Vielleicht habe ich mich deshalb so sehr darum gerissen, nach seinem Tod seine Armbanduhr zu bekommen. Eine goldene IWC aus dem Jahr 1961. Auf dem Ziffernblatt steht nicht IWC, sondern "International Watch Company". Er hat sie, wenn er vom Büro nach Hause kam, auf die Kredenz im Wohnzimmer gelegt und damit signalisiert, dass er nun im Privatleben angekommen war. Ich habe diese Angewohnheit selbstverständlich übernommen.


Die konservative Grundstruktur der Persönlichkeit meines Vaters wurde getragen von einem hohen Bildungsniveau und verblüffender Musikalität. 

Als die Verwüstungen, die er sich selbst angetan hatte, überhand nahmen, ist er ins Reaktionäre und gedanklich Grobe gekippt.
Im Niemandsland zwischen Eleganz und Verwüstung hatte er sich - wie in einem letzten Gefecht gegen die eigene Zerstörung - eine Haltung bewahrt, die mir als Blaupause heute unzerstörbar zur Verfügung steht:
Eine unerschütterliche Eleganz im Umgang mit anderen Lebensweisen.


Ich weiß definitiv, dass ihm meine politischen und sozialen Grundmuster fremd und vielleicht sogar zuwider waren. Aber er ließ mich gewähren. 

Ja, es war ihm peinlich, mich mit schulterlangen schwarzen Locken zu sehen. Aber zu Weihnachten ging er brav ins Plattengeschäft und hat mir die LPs gekauft, die ich ihm auf meinem Wunschzettel notiert hatte.
Er hielt nichts von der Politikwissenschaft. 

Aber er hat mich so lange er nur konnte, wirtschaftlich unterstützt und - das war ihm eine Frage der Ehre - er ließ meine Dissertation in einem Schreibbüro auf einer IBM-Kugelkopfmaschine abtippen. (Das war damals der ultimative technische Standard, richtiges Desktop-Publishing kam erst vier Jahre später.)


Wir waren Welten voneinander entfernt.
Aber uns beiden wäre es nie eingefallen, einander vorzuwerfen, dass wir "Schuld" wären an den schwierigen Lebensumständen des jeweils anderen.


Wir hatten es verflucht schwer miteinander.
So sehr, dass er in seinem Niedergang nicht einmal glauben wollte, ich wäre sein Sohn und wäre ihm untergeschoben worden.
Das hat uns beiden schreckliche Schmerzen bereitet.
Aber als er vier Tage vor seinem Tod an einer Blutkonserve hing und wir feststellten, dass wir die gleiche Blutgruppe haben, hat er mich zahnlos angegrinst und ganz tief durchgeatmet.


Mein Vater hat - jedenfalls in meiner Gegenwart - niemals das Wort "Toleranz" benützt. 

Und doch hat er diesen ultimativen Platinstandard des Humanismus mit größter Anstrengung gelebt. Das ist das Vermächtnis seiner Blaupause, die ich jahrzehntelang so schmerzhaft vermisst habe. 

Vor 50 Jahren
Vor 50 Jahren

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