Österreich ist mit großer Wahrscheinlichkeit eines jener Länder auf der Welt, in dem die geschriebene Verfassung mit der sogenannten "realen" kilometerweit auseinanderklafft.
Die aktuellen Ereignisse rund um die Bildung einer neuen Regierung sind der plakativste Beweis dafür.
Bevor wir in die (Un)Tiefen dieses Themas eintauchen, ein ganz kleiner Sidestep:
Schon bei der Wahl Andi Bablers zum Parteivorsitzenden und der besonders unglücklichen Vorwahl mittels Mitgliederbefragung entstand eine Mär darüber, wer denn nun diese Vorwahl "gewonnen" hätte. Die drei Kandidat*innen erhielten jeweils rund ein Drittel der abgegebenen Mitgliederstimmen, Doskozil ein paar mehr (34%).
Sofort setzte sich die Legende in Gang, er hätte die Befragung "gewonnen". Frage: Wo auf der Welt "gewinnt" man eine Abstimmung mit 34 Prozent?
Das wäre doch wohl eher der Fall, wenn jemand 50% plus 1 Stimme ergattert.
So.
Jetzt liegt die Nationalratswahl hinter uns und Kickl hat mit der FPÖ aufgerundet 29% geschafft. In Worten: neunundzwanzig. Damit hat er den höchsten Prozentsatz aller Parteien erzielt. Aber nur den relativ höchsten, nicht den absoluten. Und er darf behaupten, am meisten dazugewonnen zu haben, während mit Ausnahme der Neos alle anderen abgebaut hatten. Aber von "Wahl gewonnen" kann keine Rede sein. Das sehen jedenfalls 71 Prozent aller anderen Wähler*innen so. In Worten: einundsiebzig.
Nun kommt die Schönheit der geschriebenen Verfassung ins Spiel.
Ich erwähne einmal, was dort alles NICHT steht.
Kein Wort darüber, dass der Stimmenstärkste mit der Regierungsbildung beauftragt wird.
Kein Wort von Regierungsbildungs-Auftrag! Keines!
Was drin steht und das ist wirklich alles: Der Bundespräsident ERNENNT den Bundeskanzler.
Er ernennt ihn, sonst nix.
Alles, was seit dem Krieg geschah, war Gewohnheitsrecht und ein Quantum "Hausverstand" (für die geliebten Leser*innen aus Deutschland: Gesunder Menschenverstand).
Und das Erfahrungs-Wissen, dass in Österreich die Provisorien länger halten, als die fixen Einrichtungen.
Was unser Bundespräsident (zu dem ich mit durchaus gemischten Gefühlen stehe) getan hat, war nichts anderes, als zum ersten Mal in der Geschichte der Zweiten Republik die Verfassung wie sie geschrieben steht, umzusetzen. Dafür gebührt ihm der Dank des Vaterlands.
Er hat die drei Vertreter der stimmenstärksten Parteien aufgefordert, herauszufinden, wer mit wem kann oder will. Und es kam heraus, dass niemand mit Kickl und seiner Partei kann oder will. Somit bleibt der Herpferd auf seinen 29 Prozent sitzen und die reichen nun mal nicht für eine Regierungsmehrheit. Auch Volkskanzler - grade die - brauchen eine absolute Mehrheit.
Nun hat Van der Bellen eh schon einen Hofknicks vor der realen Verfassung gemacht, indem er Karl Nehammer mit der Regierungsbildung BEAUFTRAGT hat - ein Begriff, den es in der geschriebenen Verfassung einfach gar nicht gibt. Weil er annimmt, dass der Karli und der Andi mit der Beate (wahrscheinlich mit ihr) eine Ménage à trois zsammbringen wird. Und diese 3er-Partie hätte dann fast schon eine verfassungsgebende Mehrheit, die in Österreich 66 Prozent braucht.
Für eine Opfer-Erzählung vom Herpferd geht sich das eigentlich nicht aus. Außer für die 29 Prozent plus ein paar Zerquetschte, die sich schon beim Prozentrechnen schwer tun und auch meinen Blog nicht lesen 😎
Dass die 3er-Partie - wenn sie sich auf was einigen - dann superschnell liefern muss, ist eine andere Geschichte. Und dass der Herpferd dann im Parlament im Quadrat springen wird, auch.
Nichts von all dem ist aber in der Essenz undemokratisch. Weder die 3er-Partie, noch das im Quadrat-Springen.
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