Regression und Change. Gleichzeitig.
Was uns heute Lebenden leider massiv in die Quere kommt, ist eine Art Regression hinter längst etablierte Errungenschaften des vernunft-orientierten Diskurses. Vielleicht, weil eine zu rigide Konzentration auf eine reine, emotionsbefreite Sachlichkeit zu einer Kaltherzigkeit geführt hat, die keinen Unterschied mehr zulässt zwischen Mensch und Maschine. Dieser Prozess ist – wie so vieles in der gesellschaftlichen Entwicklung – nicht überfallsartig, sondern schleichend vor sich gegangen.
Mit Schrecken erinnere ich mich an eine Diskussion im legendären „Club2“ des ORF Anfang der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts, als der teilnehmende Erfinder der Wasserstoffbombe – Edward Teller – mit eiskalter Ungerührtheit die
Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit ihrer Erfindung begründete, bis eine Teilnehmerin der damaligen Friedensbewegung vor laufender Kamera in Tränen ausbrach.
Der Bogen spannt sich bis zur noch immer nicht vollkommen überwundenen Corona-Pandemie, in der überdeutlich sichtbar wurde, wie die Wissenschaft und ihre Zweifler in „religiöser“ Polarität aufeinanderprallten. Ein Effekt, der auf einer besonders sensiblen Ebene – der Gesundheit – die ohnehin schon weit fortgeschrittene Zerrissenheit der modernen Gesellschaft bis zum heutigen Tag verstärkt und chronifiziert hat.
„Selbstverständlich“ haben sich auch das Tempo und die Schlagzahl der Veränderungen atemberaubend gesteigert. Für weite Teile der Menschheit gefühlt „out of the blue“ kam die Einführung von ChatGPT quasi über Nacht und hat sich zunächst mit spielerischen Elementen eine alltägliche Präsenz geschaffen.
So wie bei der Einführung des ersten iPhones von Apple, das mit verspielten Gimmicks den rein technokratisch-logischen Blackberry schlagartig sehr alt aussehen hat lassen. Oder – kurz nach Launch der AI – hat ein von mir besonders geschätzter lieber Freund der AI den Auftrag gegeben, ein Bild zu generieren, das unsere 3er-Herrenrunde im Stil von Toulouse-Lautrec illustriert.
Vor kurzem hat ein anderer Freund eine bemerkenswerte, aber auch sehr verstörende Anmerkung gemacht: „Bilder lügen immer.“
Ja, das „wusste“ man schon immer. Speziell in politischen Zusammenhängen war es zu Stalins Zeiten eine hohe Kunst hochprofessioneller Retuscheure, aus offiziellen Fotos jene Personen zu entfernen, die beim Diktator in tödliche Ungnade gefallen waren. Und „natürlich“ mussten die Bild-Bearbeiter die Lücke mit aktuellen Günstlingen füllen.
Heute sind „social media“ voll mit „bearbeiteten“ Bildern, deren Authentizität kaum mehr überprüfbar ist. Das ist eine hochgefährliche Entwicklung, denn wie die Hirnforschung zeigt, wirken Bilder auf die rechte – „emotionale“ – Gehirnhälfte 60.000 mal schneller, als Worte auf die linke – „rationale“. Das ist eine einerseits sehr hilfreiche Erkenntnis, weil sie uns hilft, „bildhafter“ zu formulieren und auf diese Art Kopfkino zu produzieren. Andererseits überlagern die nun völlig unbekümmerten technischen Tools jegliche Faktizität und erleichtern bis ins Kriminelle reichende Manipulationen. Ganz abgesehen von den schier unendlichen Optionen im Text-Bereich, die massive Auswirkungen auf die Wissenschaftlichkeit von akademischen Arbeiten, auf die literarische Qualität von Belletristik und auf die Kreativität von kommerzieller Kommunikation haben.
Völlig zurecht führen Autor*innen bittere Klage über die explosionsartig zunehmende „Künstlichkeit“ vermeintlich künstlerischer Werke der Literatur, weil das, was ChatGBT liefert, letzten Endes nichts anderes ist, als ein Raubzug bei bereits bestehenden Werken.
So bleibt uns bei all dem – und der Bogen der Möglichkeiten ist hier nur mikroskopisch klein angedeutet – die aufrüttelnde Erkenntnis, dass „wir“ uns mit großer Geschwindigkeit und sehr schneller Taktung auf etwas zubewegen, das Peter Senge als „event-drivenness“ beschrieben hat. Also ein Reaktionsmuster, das uns auf überfallsartig wahrgenommene Ereignisse emotional re-agieren lässt, anstatt dass wir mit den Mitteln der Vernunft Entwicklungen beobachten und analysieren,
um vorausschauend gestalten zu können.
Die menschliche Kombination von Intellekt und Empathie lässt uns noch für eine überschaubare Periode den Spalt eines Zeitfensters offen, durch den wir unsere Vormachtstellung gegenüber der künstlichen Intelligenz im Auge behalten können.
Auch wenn der Algorithmus die menschliche Wahrnehmung längst in die Schranken gewiesen hat (er findet beispielsweise krankhafte Veränderungen in einer bildgebenden Diagnose erheblich früher, als das menschliche Auge das kann), so bleibt es doch der menschlichen Empathie vorbehalten, im Gespräch von Mensch zu Mensch nicht nur Lösungsmöglichkeiten zu erörtern, sondern auch so etwas unschätzbar Wertvolles wie Trost und Mitgefühl zu spenden.
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Birgit (Sonntag, 03 November 2024 11:26)
Der letzte Satz gibt mir Hoffnung, dass wir doch noch gebraucht werden.. dringend! Danke für diesen Trost!