Der Kaiser ist ja nackt!

Die meisten kennen das Märchen von "Des Kaisers neue Kleider". Ganz kurz die Essenz der Geschichte:
Ein narzisstischer Monarch fällt auf einen Betrüger herein, der ihm weismacht, dass er der beste Couturier weit und breit ist. Aber anstatt ihm echte neue Kleider zu schneidern, kleidet er den eitlen Gockel in Nichts(!).
Alle Hofschranzen - ängstlich, aus der Gunst zu fallen - bestätigen eifrig, wie gut der Kaiser in den neuen Kleidern aussieht, bis der Kaiser beschließt, sich in einer prunkvollen Parade dem staunenden Volk zu präsentieren. In seinen neuen Kleidern. Also mit nichts an.
Als der Prunkwagen durch die Straßen fährt, jubelt das feige Volk, bis ein kleines Mädchen laut und deutlich die Wahrheit ausspricht: "Aber der Kaiser ist ja nackt!"

Seit vielen Monaten denke ich immer wieder an dieses Märchen, wenn ich bei meinen Expeditionen in das Innenleben von Unternehmen den Gap zwischen Wirklichkeit und Worten betrachte. (Die hohe Schule dieser Spreizung lässt sich täglich auf LinkedIn beobachten.)

Eine seit Jahren eklatante Diskrepanz zwischen Wollen und Können tut sich in der Innenarchitektur von Büros auf.
Der Hype um die Großraumbüros - die physischen Ausprägungen von New Work - hält ja ungebrochen an und zeigt jeden Tag, wie schwierig es nach wie vor für viele ist, sich in diesen Bahnhofwartehallen zu konzentrieren oder auch nur halbwegs koordiniert zu telefonieren. Die ursprünglichen Architekten-Lösungen - sehr oft nur mühsam kaschierte Fakes, um das Bedürfnis nach Baukostenersparnissen zu verbergen - müssen häufig "nachgebessert" werden. Mit dicken schallfressenden Filz-Vorhängen, die von den Decken baumeln, mit Kästen, mit Pflanzen und natürlich (!) mit Telefonkabinen und kleinen Nischen, in die man sich zurückziehen kann.

Gar nicht so selten outen sich die Vorgesetzten, warum sie die open spaces so lieben, weil sie dadurch immer freie Sicht auf alle haben und erkennen können, wer grade nicht am Projekt arbeitet, sondern im Internet surft...
Das alles ist kein reaktionäres Lamento mit der Sehnsucht nach langen Gängen und vielen Wänden, die wie Gefängniszellen aneinandergereiht sind. Es ist die Beobachtung, dass es viele Menschen gibt, die nach wie vor in Ruhe arbeiten wollen und es sich selbst aussuchen möchten, wann sie interagieren und wann nicht.

Konsequenz: Das Bedürfnis nach Home-Office nimmt zu und damit blüht die nächste Chimäre vor sich hin.
Zwei Ent-täuschungen:
Die Produktivität der einzelnen Mitarbeitenden und vieler Teams ist durch Home-Office NICHT gesunken. Entgegen vieler Unkenrufe von Kontrollzwänglern.
Gleichzeitig hat - wegen fast ausschließlich praktiziertem Home-Office - die Kreativität und die Spontaneität in Teams gelitten, weil der schnelle Austausch über den spontanen realen Besuch bei den Kolleg*innen einfach nicht mehr stattfindet.
Im Extremfall kommt es zu echten Entfremdungen und Isolationen.

Wenn wir schon beim Arbeiten sind:
Die agilen Methoden sind großartig, wenn es ein freies Spiel der Kräfte geben darf, wenn es keine verpflichtenden Arbeitsergebnisse geben muss und wenn Budgets nach Sprints vergeben werden können. Und: Wenn es den "guten Menschen" gibt, der sich an die Regeln hält und seine Verantwortung wahrnimmt.

All das geht regelmäßig schief, wenn Deadlines eingehalten werden müssen, Pflichtenhefte erfüllt werden müssen und es Auftraggeber gibt, die überraschungsfrei kriegen wollen, was sie bestellt haben.
Dann - und das kommt sehr viel öfter vor, als man glauben möchte - knallts laut und deutlich, wenn das Wohlbefinden über das Wohlverhalten siegen will und irgendwann Schluss mit lustig ist.

Ich könnte noch stundenlang weiterschreiben und erzählen, wie oft mir in vertraulichen Gesprächen das Leid geklagt wird, dass die vielen wunderbaren neuen Welten de facto unbewohnbar sind.

Was ich schön fände:
Mehr Ehrlichkeit in der Evaluierung von Experimenten, die in den allermeisten Fällen wirklich gut gemeint sind.
Mehr Mut beim Change - vom ersten Impuls bis zum Feedback und der Korrektur.
Mehr Leadership, das sich nicht in der Rolle von Klassensprecher*innen erschöpft, um die Mehrheitsmeinung der Geführten umzusetzen.

Wenn Impulse wie diese - und gerne noch ein paar mehr - umgesetzt werden, könnte endlich die Brücke zwischen Wertschätzung und Wertschöpfung stabil und belastbar befahren werden. 

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