Genervt.

Neulich auf LinkedIn. Eine - nach Sichtung ihrer Postings - bestimmt kluge und balancierte Frau schreibt, dass sie genervt ist vom zunehmenden digitalen Druck des Duzens und der ebenso grassierenden E-Mail-Abbinder "gerne auch per Du".
Sie mag das Undifferenzierte nicht und hat deswegen auch kürzlich einen Mitarbeiter, der das "gerne auch per Du" im E-Mail dranhing, "zurückgepfiffen".

Das war den sprachlichen Tugendwächtern schon zu viel. Die Kommentarliste quoll über von Anmerkungen, dass die Autorin nun wohl schon wochenlang aus ihrer Spur der Wertschätzung abgebogen wäre. "Genervt" zu sein sei nun doch nahe der passiven Aggression und dass ein Mitarbeiter "zurückgepfiffen" wurde, ließe den Verdacht eines autoritären Führungsstils zu.

In den Untiefen meiner Bauchgegend macht sich großes Unbehagen breit. Wenn jemand sagt, er/sie wäre von etwas genervt, entspricht das einer astreinen Ich-Botschaft - einem Prunkstück der "gewaltfreien Kommunikation". Und diese Art der Kommunikation ist in ihrer gesamten DNA darauf ausgelegt, verletzungsfrei zu kommunizieren und gleichzeitig bei der Beschreibung des eigenen Zustands robuste Energie einsetzen zu dürfen. 

Wer bei "Ich bin genervt" als Leser*in unter Druck gerät und diesen Druck an den/die Absender*in zurückschickt, leistet Vorschub, dass wir alle zu paranoiden Eremiten werden, die still in sich versinken, um nur ja keine Irritationen in der Umgebung zu verursachen. So eine kommunikative Kastration sollte doch spätestens seit Freud verpönt sein.

Ein derart unaufgeklärtes Biotop leistet im Endeffekt nur denen Vorschub, die ihr ganzes Streben in die Abschaffung einer liberal-aufgeklärten demokratischen Verfasstheit legen. 

Ein System, das seinen vermeintlichen inneren Frieden aus der (Selbst-)Zensur der Einzelnen ableitet, führt Krieg gegen seine Bewohner und ist genuin autoritär und diktatorisch.

Es stehen mittlerweile viele Beispiele zur Verfügung, wie wirkungslos Modelle der stillen Zurückhaltung oder auch der subtilen Sprachpolizei gegenüber all jenen verpuffen, die völlig unbekümmert die Fakten und die Evidenzen verbiegen und der Wertschätzung den Baseballschläger ins Gesicht donnern.

"Wir" sollten uns endlich aufrappeln und um 10er-Potenzen öfter als bisher klar und deutlich sagen, was uns "nervt" ohne uns gemein zu machen mit all jenen, die ihre Lügen und ihre Verschwörungsmythen unter Kuhglocken-Gedröhn herausschreien.
Sonst werden spätere Generationen - falls es die dann noch gibt - uns vorwerfen müssen, wir hätten Räucherstäbchen- und Correctness-benebelt zugesehen, wie uns die Faschisten schon wieder die Demokratie weggeräumt haben. 

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Bernhard Schatz (Sonntag, 01 Dezember 2024 07:36)

    Bin voll deiner Meinung. Toleranz gegenüber der Intoleranz ist der falsche Weg �