Als ich in den Nuller-Jahren in Klosterneuburg lebte, ist unser Nachbar gestorben. Er war ein feiner, eleganter älterer Herr, gleicher Jahrgang wie mein Vater.
Er starb an einem 4. Jänner - das Sterbedatum meines Vaters.
Bei seinem Begräbnis fiel mir ein Grabstein auf, der eine Inschrift trug, die ich bis heute in meinem Herzen bewahre:
MEHR LIEBE IM LEBEN.
Mehr Liebe.
Im Jahr 2024 - dem Jahr des 300. Geburtstags von Immanuel Kant - denke ich an die großartige Definition von "Toleranz", die uns der wunderbare Denker geschenkt hat:
"Toleranz ist das liebevolle Annehmen des Anders-Seins." Und auch wenn uns der sehr viel später aktive Sir Karl Popper das berühmte Toleranz-Paradoxon hinterlassen hat (Die Grenzen der Toleranz
liegen bei der Intoleranz. Denn die Intoleranz zu tolerieren, wäre das Ende der Toleranz.):
Es lohnt sich allemal, bei jenen das liebevolle Annehmen des Anders-Seins zu üben, die diese höchste Form der Akzeptanz verdienen.
Denn derer gibt es viele.
Der berühmte amerikanische Professor Robert Sutton (der zum Glück noch am Leben ist und in Stanford unterrichtet)
schreibt in seinem Weltbestseller "Der Arschloch-Faktor", dass es in jedem System einen gesicherten Bodensatz von 20% Arschlöchern gibt.
Post-pandemisch lässt sich dieser Prozentsatz zwar auf 30% erhöhen, aber zwei Drittel der Menschheit scheinen es wert zu sein, dass man sich ihrer liebevoll annimmt.
Mehr Liebe:
Vielleicht lohnt es sich ja, aus dem eigenen Kokon herauszuspähen. Wahrscheinlich wäre es eine realisierbare Option, sogar gleichzeitig auf sich selbst zu achten und
in diesem Zusammenhang auch auf den Menschen in der nächsten Nähe zu schauen. Unter Umständen zeigt sich die Liebe besonders gut, wenn man sie vom Kitsch befreit und einfach auf einen
verletzungsfreien Alltag schaut. Eventuell eröffnet ein liebevoller Blick auf den anderen Menschen einen Spalt, durch den man eine neue Perspektive wahrnehmen kann. ("There´s a crack in
everything - that´s where the light comes in.")
Im Leben.
Bei Goethes Faust gibt es ganz am Anfang eine Szene, in der sich Dr. Faust bemüht, die Bibel zu übersetzen. Und er bleibt verzweifelt stecken, weil ihm die
landläufige Übersetzung "Am Anfang war das Wort" (Logos) nicht ausreichend erscheint. In der Folge hantelt er sich qualvoll voran, bis er unterwegs bei einer Markierung des Denkens stehenbleibt,
in der ihm dämmert:
Am Anfang war die Tat.
Die Liebe:
Wie in der Philosophie durch das Wort, die Liebe im Leben durch die Tat sichtbar machen.
Das könnte bedeuten, dass man ein bis zwei mal öfter die eigenen Bedürfnisse zugunsten eines anderen Menschen zurückstellt.
Aber auch: Durch ein mutiges NEIN den anderen Menschen in das eigene Innere schauen lassen, um Grenzen abzustecken und den eigenen Schmerz sichtbar zu
machen.
Oder auch: In großer Not um Hilfe bitten. Das verlangt ein hohes Maß an Vertrauen des in Not Geratenen, aber auch eine tief verwurzelte Bereitschaft der
Angesprochenen, darauf zu reagieren. In den Spiegel schauen, den der Mitmensch mir hinhält und sich selbst darin zu erkennen.
Liebe praktisch wirksam machen.
Vom Gedanken zum Sinn.
Vom Sinn zur Tat. Von der Tat zur Wohltat.
Vom (Vor-)Wurf zum Schattensprung.
Mehr Liebe im Leben.
Mehr Liebe. Im Leben.
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Walter Zinggl (Sonntag, 08 Dezember 2024 16:33)
Oder Liebe leben.